Aus dem Radio und diversen Medien konnte man vergangene Woche Ihre Enttäuschung entnehmen, dass österreichweit rund 30 bis 40 Maturanten einfach leere Blätter bei der schriftlichen Matura abgegeben haben. Man habe ihnen die Hand gereicht und nun sei die Empörung groß. „Spätpubertierende Matura-Rebellen“ hätten sich unreif verhalten und wären ein schlechtes Vorbild gewesen. Direktoren müssten ein ernstes Wort mit diesen Schülern sprechen. Und warum: Weil sich ein paar Maturanten an die neuen Spielregeln gehalten haben. Legal? Ja. Moralisch in Ordnung? Natürlich nicht.

Wie wäre es, Herr Minister, wenn Sie Entscheidungen von volljährigen jungen Menschen einfach annehmen und akzeptieren würden? Braucht die Schule des dritten Jahrtausends immer noch den moralischen Zeigefinger? „Du hast mir heute keine Zierleiste bei deiner Hausübung gemacht!“ ist in der Volksschule ja ganz lieb und putzig, aber mit erwachsenen Menschen muss anders umgegangen werden. Sie haben die Spielregeln geändert: Das Einbeziehen der Jahresnote der 8. Klasse in die Maturanote eröffnet einen gewissen Gestaltungsspielraum. Mit einem Dreier im Zeugnis und einer leeren Deutsch-Matura ist man als Schüler „save“ (3 plus 5 = Mittelwert 4). Genauso könnte man sagen, dass die Entscheidung von diesen wenigen Schüler auch als mutigen und entzaubernden Schritt aufgefasst werden könnte, da die Zeiten schon lange vorbei sind, wo ein gutes Maturazeugnis irgendwelche Türen öffnen würde.

Warum mündliche Matura?

Also, wozu die Empörung, Herr Minister? Die Spielregeln wurden geändert und dieses angeblich moralisch-flachwurzelnde Promille hat sich daran gehalten. Niemand hat Sie gezwungen, die Covid-19-Maturaregelung so zu gestalten. Aber so ist das nun mal mit Spielregeln: Man sollte auch die nicht-intendierten Folgen mitdenken. Ein Regelwerk mit ähnlicher Logik war die damals eingeführte Zwei-Drittel-Hürde in der ersten Hälfte der zentralen, schriftlichen AHS-Mathematura. Die Folgen waren für mich als Nachhilfelehrer klar spürbar. Niemand wollte Typ-2-Beispiele üben, da sie rein gar keinen Einfluss auf eine positive Note hatten. Folglich hätten meine Schüler bereits nach Erledigen des ersten Teils ihre Schularbeiten abgeben können, da nur hier die positive Note zustande kommen konnte. Hätten dann die Lehrer und Direktoren auch ein ernstes Wort sprechen sollen? Oder einfach deren Entscheidung respektieren? Erst mit 2019 wurde diese Prüfungslogik bei der Matura geändert, sodass nun auch die Hälfte aller Punkte für eine positive Note herangezogen werden kann.

Der Show-Aktionismus der mündlichen Matura wurde dieses Jahr in Wahrheit in Frage gestellt. Im Gegensatz zu einer selbst verfassten vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA), wo im besten Fall persönliches Interesse und Herzblut eingeflossen sind, macht die mündliche Matura niemanden intelligenter oder kompetenter. Es war seit jeher ein Akt des quasi-öffentlichen Vorführens der eigenen Schüler unter den Auspizien eines externen Vorsitzenden. Was bleibt, ist vielleicht der „Kick“ dieser großen kommissionellen Prüfung. „Aber ja … wir mussten das auch alle machen“ ist wahrscheinlich die am häufigsten genannte Begründung, warum es eine mündliche Matura braucht. Sie trennt auch nicht die Spreu vom Weizen. Es bleibt faktisch niemand nach zwölf Schuljahren auf der Strecke, weil er oder sie die finale Matura nicht absolviert hat. Damit bleibt die Frage weiterhin offen, welchen Wert dieses Ritual hat. Wenn du später dann beim Studieneingangstest für Medizin sitzt, hilft dir weder der angebliche so gute Ruf deiner Schule noch dein Maturazeugnis. Dann geht es nur mehr um Leistung, Punkte und Studienplätze. Dann zählen auch die vergangenen zwölf Schuljahre mit moralisch-hochwertigem Verhalten nicht mehr.

Die Maturanten haben sich nur an die Spielregeln gehalten, Herr Minister.
Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Eine gute Sache

Herr Minister Faßmann, ich möchte aber auch nicht undankbar erscheinen: Als Hilfestellung für die Corona-Maturanten wurde eine Plattform mit tausenden Videos völlig kostenfrei zugänglich gemacht, wo jedes einzelne Mathematik-Maturabeispiel seit Einführung der Zentralmatura fachmännisch erklärt wird. Das ist eine Ressource, die es in dieser Form noch nie gab. Das ist eine Unterstützung für alle, die Verantwortung übernehmen und selbständig lernen und üben wollen. Das ist etwas, was keine Schule von sich aus anbieten und leisten kann. Der einzige Wermutstropfen an dieser Sache war, dass ein hoher Anteil der Lehrer es wahrscheinlich nicht an ihre Schüler kommuniziert hat. Vielleicht wussten sie es selber nicht. Von meinen Grazer Maturanten war leider keiner darüber informiert. Irgendwie doch schade Herr Minister, oder? Da streckt man ihnen die Hand entgegen und es kommt kein Dank zurück. Am besten gründlich evaluieren und im nächsten Jahr alles besser machen! (Rainer Saurugg, 3.6.2020)

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