Wladimir Putin hat sich entschieden: Das Referendum über die Änderung der russischen Verfassung soll am 1. Juli stattfinden.

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Die Corona-Krise in Russland ist zu Ende. Zumindest aus Sicht des Kremls. Von den Höchstzahlen in der zweiten Maiwoche, als die Behörden täglich 11.000 Neuansteckungen meldeten, sind die Werte auf zeitweise etwas über 8.000 gefallen. Seit Einführung der Kontaktbeschränkungen sei das Ansteckungstempo auf ein Dreizehntel gesunken. Der Zuwachs betrage nun lediglich zwei Prozent pro Tag, und jeder Kranke stecke inzwischen weniger als eine weitere Person an, vermeldete Russlands oberste Amtsärztin Anna Popowa bei einer Videoschaltung mit Wladimir Putin.

Der russische Präsident setzt daher auf eine rasche Umsetzung seiner eigenen, wegen der Pandemie verschobenen politischen Projekte. Am Montag bestimmte er den 1. Juli als Termin für die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung. Die Verfassungsreform hatte Putin zu Jahresbeginn selbst initiiert – ursprünglich mit der Ankündigung, die Gewaltenteilung besser auszubalancieren. Die wichtigsten Punkte im Ergebnis sind eine Verlängerung seiner eigenen Amtszeit, die sonst 2024 endgültig ausgelaufen wäre, und eine noch stärkere Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten.

Parade als doppeltes Symbol

Für den Kremlchef ist Eile geboten: Er will eine möglichst große Mehrheit für seine neue Verfassung haben, um ihr Legitimität zu verleihen. Das Datum 1. Juli ist daher bewusst gewählt. Eine Woche vorher, am 24. Juni, lässt er die ursprünglich für den 9. Mai geplante Militärparade auf dem Roten Platz abhalten. Sowohl für die Parade als auch für die Abstimmung, die jeweils auf einen Mittwoch fallen, hat der Kreml den Russen einen freien Tag gegeben. Die Parade wird damit nicht nur zum Symbol des Sieges über Hitler-Deutschland, sondern zugleich auch über das Coronavirus.

Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Zahlen der Neuinfektionen bis Ende Juni weiter sinken. Der Kreml setzt darauf, dass die patriotisch unterfütterte Euphorie viele Wähler zur Abstimmung bewegt. Um den Effekt zu maximieren, können die Russen schon ab dem 25. Juni – also einen Tag nach der Siegesparade – ihr Kreuzchen machen. Putin begründet die Streckung des Referendums auf eine Woche mit der Gesundheitsvorsorge. Die Ansteckungsgefahr werde dadurch minimiert. Gleichzeitig ist aber auch die Wahlbeobachtung erschwert.

Umstrittene Statistiken

Die Vorsichtsmaßnahmen zeigen, dass der Kreml nicht restlos überzeugt ist, die Seuche besiegt zu haben. Tatsächlich sind zuletzt die Zahlen russlandweit wieder leicht auf über 9.000 Neuansteckungen pro Tag gestiegen. Das größere Problem ist die Zuverlässigkeit der Statistik. In Moskau, dem ersten Epizentrum der Covid-19-Ausbreitung, sind die Zahlen mehr oder weniger stimmig. In den Regionen jedoch sieht das anders aus. In der Kaukasus-Republik Dagestan kam es zum Eklat, nachdem der dortige Gesundheitsminister kürzlich erklären musste, dass die offiziellen Zahlen weit unter dem tatsächlichen Ausmaß der Katastrophe liegen. Hunderte Covid-Todesfälle wurden dort als einfache Lungenentzündung eingestuft. Gut möglich, dass solche Zahlenspiele auch in anderen Regionen laufen, um sich vor dem politischen Zentrum in Moskau nicht bloßzustellen.

Andererseits kann der Kreml die Abstimmung nicht zu lange hinauszögern: Noch sind die wirtschaftlichen Folgeschäden der Pandemie nicht voll zu erkennen. Viele Russen hoffen, dass nach dem schrittweise erfolgenden Abbau der Quarantänemaßnahmen sich die Wirtschaft schnell erholt. Das böse Erwachen dürfte im Sommer kommen, wenn die große Pleitewelle folgt.

Popularitätsverlust Putins

Schon jetzt sind die Popularitätswerte Putins auf einem Rekordtief: Auf die Frage, welchem Politiker sie vertrauen, nannten gegenüber dem staatlichen Umfrageinstitut WZIOM im April (neuere Ergebnisse gibt es bei dem Institut noch nicht) nur 27 Prozent der Russen den Namen Putin. Die vom unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum veröffentlichten Mai-Zahlen dokumentieren einen weiteren Popularitätsverlust. Demnach vertrauen nur noch 25 Prozent der Bürger dem Kremlchef.

Für eine Mehrheit bei dem Referendum reicht es derzeit trotzdem, meint der Soziologe Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum. Die Abhängigkeit der Bürger vom Staat ist durch die Krise nur gestiegen, das Potenzial für die Mobilisierung von Beamten und staatlichen Angestellten damit sogar noch höher als üblich. Und notfalls werde eben so gezählt wie nötig, fügt Kolesnikow hinzu. (André Ballin aus Moskau, 2.6.2020)