Seinetwegen wurde man mit dem Begriff der "Pflichterfüllung" eindringlich konfrontiert: Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim als Plakatsujet anno 1986.

Foto: Matthias Cremer

Wohl aus Rücksicht auf die Pandemie fiel das Gedenken ans Kriegsende 1945 vor kurzem ausgesprochen nüchtern aus. Die Rückgewinnung unserer österreichischen Identität vor 75 Jahren bildet gewissermaßen die Grundlage für jede unschuldige Form von Nationalstolz. Diese ermöglicht es uns heuer auch, Ministerin Köstingers Ratschläge ausdrücklich zu beherzigen. Wir stillen daher unser Fernweh reuelos im spinatgrünen Mariazeller Land oder im Kirchturmschatten von Maria Taferl, anstatt uns in Jesolo von der tückischen adriatischen Sonne durchbraten zu lassen.

Als kleinem Babyboomer mit abstehenden Ohren begegneten mir in den ersten Jahren der Ära Kreisky nicht wenige Landsleute, die dem Kriegsende wenig Segensreiches abgewannen. Hingegen fanden sich in fast jeder Familie Angehörige, die an der Verteidigung des "Deutschen Reiches" auf die eine oder andere Weise beteiligt waren.

Einer meiner Großonkel, ein niederösterreichischer Landesbeamter, pflegte jede familiäre Zusammenkunft mit "seiner" ganz persönlichen Heldenerzählung zu schmücken. Als Flakhelfer in Wien an der Luftabwehr beteiligt, ereilte seine kümmerliche Einheit irgendwann im März 45 ein Anruf aus Berlin: Der "Führer" persönlich wolle unverzüglich den diensthabenden Kommandeur sprechen!

Prompt am Telefon

Die geängstigten Blicke aller fielen umgehend auf den Onkel: "Salzmann, du bist doch so goschert! Red' am besten du mit dem ,Führer‘!?" Also klemmte sich der Flakhelfer, der nicht ungefällig sein wollte, prompt ans Telefon und erwiderte – auf heftiges Befragen durch den Verbrecher Hitler hin – das Zauberwort jener furchtbaren Tage: "Jawohl!"

Niemand im trauten Verband unserer Familie stellte die Erzählung des Onkels jemals in Frage. Von Hitler hatte ich immerhin schon gehört gehabt und wusste, der war kein Guter. Also fragte ich irgendwann, was er, der redegewandte Onkel, dem "Gröfaz" denn geantwortet habe? "Na, Meldung erstattet habe ich ihm: ,Mein Führer, in der Ostmark alles in Ordnung!‘" Worauf der Führer dem Onkel Salzmann lediglich erwidert haben soll: "Schön, schön!"

Die noch nachträglich bekundete Harmonie mit Hitler hinderte meinen Verwandten nicht daran, als aufrechter Demokrat an der weiteren politischen Entwicklung Österreichs regen Anteil zu nehmen. Als ich alt genug geworden war, schwor ich mir, ihn bei nächstbester Gelegenheit zu fragen: Warum hast du dem Irren nicht deine Verachtung für all das namenlose Elend ins Ohr geschrien? Da war der Onkel freilich schon dement geworden, ehe er bald darauf starb. Über den Bildschirm flimmerte stattdessen das Gesicht Kurt Waldheims; und man bekam zu hören, was es mit der Pflichterfüllung auf sich habe. (Ronald Pohl, 3.6.2020)