Im Tierreich zählen die Stachelhäuter – also Seegurken, Seeigel und Seesterne – zu den Kreaturen mit den größten Selbstheilungskräften. Seesterne können beispielsweise ganze Arme ersetzen und in einzelnen Fällen sogar aus einem einzigen Arm weitere Arme nachwachsen lassen. Auch Seegurken können verlorene Körperteile binnen weniger Wochen wieder nachwachsen lassen. Ob Seeigel ebenfalls über solche Regenerationsfähigkeiten besitzen, ist bisher nur kaum erforscht worden.

Ein Drittel des Panzers fehlte

Nun aber haben Wissenschafter am Meeresgrund vor Spitzbergen einen dieser stacheligen Meeresbewohner mit schwersten Verletzungen beobachtet, der offenbar noch ganz gut zurecht kam: Der Seeigel aus der Gattung Strongylocentrotus hatte mehr als ein Drittel seines Panzers eingebüßt, und sogar wichtige Organe fehlten ihm – und doch hat er sich über den gesamten Beobachtungszeitraum von 43 Stunden weiter über den Meeresboden bewegt und dabei sogar einer großen Krabbe getrotzt.

Trotz seiner schweren Verletzung war der Seeigel der Gattung Strongylocentrotus immer noch lebensfähig.
Foto: Senckenberg

Die spektakulären Aufnahmen entstanden 2016 während einer Expedition mit dem Forschungsschiff Maria S. Merian nach Spitzbergen, bei der eine Experimentenplattform mit Messgeräten und einem automatischem Kamerasystem für eine Woche auf dem Meeresgrund platziert wurde. Dabei kam auch ein ungeahnter Protagonist ins Blickfeld: ein etwa 38 Millimeter großer Seeigel aus der Gattung Strongylocentrotus mit schwersten Verletzungen.

Dezentrales Nervensystem hilft

"Trotz eines großen Lochs im schützenden Panzer, an dessen Stelle eigentlich seine Sexualorgane, sein After und weitere wichtige Organe liegen sollten, konnten wir beobachten, wie sich der kleine Meeresbewohner 43 Stunden und 20 Minuten auf dem Meeresboden weiterbewegte. Sogar einem Angriff einer großen Krabbe konnte der Seeigel noch ausweichen!", sagt der Geobiologe Max Wisshak von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven. Der Grund, warum der kleine Seeigel trotz seiner vermeintlich tödlichen Wunde so lang überlebte, liegt laut der im Fachjournal "Polar Biology" erschienenen Studie darin, dass Seeigel statt eines echten Gehirns ein dezentrales Nervensystem haben, das auch im Fall von schweren Verletzungen weiter funktioniert.

Der Meeresboden vor Spitzbergen wurde unter anderem auch mithilfe des Tauchroboters Jago untersucht.
Foto: Solvin Zankl

Wie der Seeigel zu seinen Verletzungen kam, ist unklar. Die Tiere stehen unter anderem auf dem Speiseplan von Fischen und großen Krebsen, die den Panzer eines Seeigels aufbrechen können und sich die weichen Organe einverleiben. "Eine natürliche Verletzung ist daher gut möglich. Leider können wir aber auch nicht ausschließen, dass wir selbst den Stachelhäuter beim Herablassen unserer Forschungsgeräte verletzt haben", so Wisshak. Sollte Letzteres der Fall sein, wäre der Seeigel sogar bereits vier Tage in seinem Zustand gewesen, bevor er in das Blickfeld der Kamera gelangte.

Selbstheilung als Überlebensstrategie

Offen bleibt auch, ob das Tier überlebte, nachdem die Aufnahmen beendet wurden. "Von fossilen Seeigeln kennen wir zum Teil beträchtliche Brüche in den Schalen, die anschließend wieder komplett verheilt sind. Wir glauben daher, dass Seeigel wie ihre Verwandten, die Seesterne, hohe Regenerationsfähigkeiten haben, und gehen davon aus, dass die Selbstheilung ein Teil ihrer Evolution ist, um als Beutetier bessere Überlebenschancen zu haben", sagt Wisshak. (red, 6.6.2020)