Ganz so kompliziert wie auf diesem Tafelbild voller mathematischer Formeln war die Matura 2020 nicht, aber sie hatte es in sich.

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War die heurige Mathematik-Reifeprüfung, also just die "Corona-Matura", wirklich so schwierig, wie nicht nur in sozialen Medien von einigen "mitmaturierenden" Eltern, aber auch Maturantinnen und Maturanten selbst sowie vereinzelt von Lehrkräften geklagt wird?

Bundesschulsprecherin Jennifer Uzodike von der ÖVP-nahen Schülerunion, selbst heuer Maturakandidatin, hat wissen lassen, dass die Beispiele laut Rückmeldungen von AHS- und BHS-Schülervertretern "schaffbar, aber definitiv schwieriger als im letzten Jahr" gewesen seien. Vor allem in den Gymnasien sei Teil zwei von vielen als besonders schwierig empfunden worden.

Keine auffälligen Rückmeldungen im Ministerium

Im Bildungsministerium weiß man auf STANDARD-Anfrage nichts über auffällige Beschwerden über die Mathematik-Matura. Weder von Lehrkräften noch von Bildungsdirektionen seien derartige Rückmeldungen gekommen. Teil zwei der Klausur sei definitionsgemäß anspruchsvoller.

Das Klausurheft, für das es 270 Minuten an reiner Arbeitszeit gab, bestand aus 24 Typ-1-Aufgaben, die die Grundkompetenzen testen und den "wesentlichen Bereich" der Leistungsbeurteilung darstellen. Dieser Teil ist auch ausschlaggebend, um positiv abzuschneiden. Dazu kamen noch vier umfangreichere Typ-2-Aufgaben, mit denen die Anwendung und Vernetzung von Grundkompetenzen in bestimmten Kontexten überprüft wird – also "(weit) über das Wesentliche hinausgehende Bereiche".

Ziemlich weit darüber hinausgehend ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man mit Andreas Vohns spricht. Er leitet das Institut für Didaktik der Mathematik an der Universität Klagenfurt und war in Vorjahren selbst als Experte in die Qualitätssicherung der Mathematik-Matura eingebunden. Die früheren Klausuren kennt er auch deshalb sehr gut, weil er in einem Forschungsprojekt zum Einfluss des Textverständnisses die alten Beispiele analysiert hat.

"Da ist beim Anspruch angezogen worden"

Sein Urteil über die AHS-Mathematik-Matura 2020: "Teil eins war vom mathematischen Anspruch sehr vergleichbar mit den Vorjahren. Teil zwei aber war mathematisch deutlich anders und auch anspruchsvoller als in den Jahren davor. Da ist beim Anspruch angezogen worden. Da ist diesmal schon eine andere Latte angelegt worden." Ein Beispiel zur Ozonmessung etwa, das "relativ physikalisch formuliert und sprachlich anspruchsvoll" war, hätte er "vom Typus her eher in der BHS-Matura" – etwa im Teil für die HTL – erwartet.

Teil eins sollte allerdings kein Problem gewesen sein: "Da war alles gut beantwortbar. Damit sollten alle gut zurechtgekommen sein", meint Vohns: "Das waren Fragestellungen, die auch am Ende der Unterstufen gekonnt werden sollten."

Viel außermathematischer Kontext

Vohns hat für den STANDARD die Fragestellungen analysiert und dabei zeigte sich, dass schon im Teil eins 62,5 Prozent der Aufgaben einen "außermathematischen Kontext" hatten, ein Anteil, der im Vergleich zu früher "eher hoch" ist. In Teil zwei waren es laut Vohns überhaupt gleich 100 Prozent. Bei fast 40 Prozent der heurigen Beispiele sei "die Art zu fragen oder die Kontextualisierung eher ungewohnt für die Schülerinnen und Schüler", erklärt Vohns: "Das ist nicht wenig."

Beispielhaft nennt er "Modellierungsaufgaben in zum Teil sehr artifiziellen Kontexten". Vohns zählt zum Beispiel Frage 27 aus Teil zwei dazu, in der es um ein "Quiz mit Spielbrett" geht. Diese sei "gekünstelt und teilweise hinsichtlich der Verknüpfung von Wissensbereichen auch anspruchsvoll".

Auch ein Überflieger rauft sich die Haare

Sogar für einen mathematischen Überflieger, wie man an einem höchst unterhaltsamen Selbstversuch von Benjamin Hackl beobachten kann. Der 25-Jährige ist Postdoc an der Uni Klagenfurt, bekannt wurde er, weil er schon mit 15 Jahren neben dem Gymnasium sein Mathematikstudium begonnen hat – und mit 20 jüngster Absolvent eines Masterstudiums an der Uni Klagenfurt war. Drei Jahre später, 2018, galt dasselbe für das Doktorat. Auf Youtube kann man ihm zwei Stunden und 17 Minuten lang beim Rechnen, Tüfteln, Grübeln und an einigen Stellen auch beim Haareraufen zuschauen.

Zum Beispiel bei besagtem Spielbrett-Beispiel, an dem der Mathematiker ganze 24 Minuten arbeitet. "Puh! Nicht zu verachten." Dann war noch die letzte Aufgabe zu lösen – die bereits angesprochenen Ozonmessungen. Noch einmal 23 Minuten: "Relativ umfangreich, sehr textlastig. Da war viel zu tun."

Hackls Ergebnis nach Kontrolle der Lösungen: "Ich hab' bestanden." Sein Fachresümee: "In Teil eins waren keine großen Überraschungen dabei. Die Beispiele in Teil zwei sind definitiv ein bissl knackig. Da muss man aufpassen, weil man Folgefehler machen kann. Das ist etwas, das man vielleicht beanstanden kann."

Was heißt schwierig?

Zu dem heiklen Thema "schwierig oder nicht" sagt Mathematikdidaktiker Vohns übrigens: "Was ist schwierig? Die empirische Definition lautet: Einfach ist das, was viele lösen können. Schwierig das, was wenige schaffen. Die Sachen sind alle machbar, das war alles Prüfungsstoff, aber aufgrund der Umstände heuer mit Corona-bedingtem Homeschooling und mit Blick auf das Vorjahr hätte ich die diesjährige Matura eher ein Schippchen leichter erwartet. Ich bin gespannt, wie es ausgeht. Ich würde mit nicht so vielen Einsern rechnen. Auch für Zweier muss man einiges aus Teil zwei holen." Jenem Teil, über den er sagt: "Teil zwei hätte ich mich so nicht stellen getraut."

"Nicht passgenaue" Übungspakete und verfehlte Auszeichnungen

Und was sagen Praktiker dazu? Isabella Zins, Sprecherin der AHS-Direktorinnen und -Direktoren, berichtet ebenfalls, dass die heurige Mathematik-Matura laut Rückmeldungen von Lehrkräften "anspruchsvoller als in den vergangenen Jahren war, Teil zwei war besonders schwer".

Die Leiterin des BORG Mistelbach stößt sich aber mehr am Übungspaket, das das Bildungsministerium extra für die besonderen Umstände der Maturavorbereitung via Distance Learning zur Verfügung gestellt hat. Dieses sei "nicht wirklich passgenau" gewesen und habe viele Mathematiklehrer "verärgert, weil das nichts mit den späteren Maturaaufgaben zu tun gehabt hat. Es stellt sich nun heraus, dass aufgrund des schwierigen zweiten Teils jeweils einige ausgezeichnete Schülerinnen und Schüler das Sehr gut – und deswegen eventuell auch einen 'ausgezeichneten Erfolg' im Maturazeugnis – knapp verpasst haben." (Lisa Nimmervoll, 3.6.2020)