STANDARD: In der Corona-Krise wurde es vielen in der Stadt zu eng. Was sind Lösungen für dieses Problem?

Mathis: Die Stadt hat einen Dichtestress, es gibt zu wenig Platz, eine zunehmende Überteuerung von Wohnraum, Verkehrsprobleme, und alles ist vollgestopft mit Autos. Das wird sich in Zukunft weiter zuspitzen, vor allem wenn die Ausdünnung des Landes so weitergeht. In den Städten wird es bis 2050 Einwohnerzuwächse um bis zu 30 Prozent geben. Die Lösungen dafür liegen am Land.

STANDARD: Wie könnten sie aussehen?

Mathis: Das monopolistische Arbeitsmarktangebot in den Städten kann nicht die Zukunft sein. Arbeitsplätze sind der springende Punkt, denn wieso bleiben die Menschen nicht auf dem Land, obwohl ein Großteil gerne dort leben würde? Weil sie dort bildlich gesprochen nichts zu essen haben – also keine Arbeitsplätze. Diese müssen besser auf das ganze Land verteilt werden. Wir brauchen nicht das 130. Start-up-Center in Wien, wir brauchen solche Projekte im ländlichen Raum. Es ist Zeit, sich dieses Problems anzunehmen und in den ländlichen Raum zu investieren. Doch wichtig ist, Stadt und Land nicht gegeneinander auszuspielen – beide haben Vorteile.

Arbeitsplätze müssen über das ganze Land verteilt werden und nicht nur in Städten verfügbar sein, fordert Gerald Mathis.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Gibt es bei Entscheidungsträgern und in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür?

Mathis: Leider nein. Denn der ländliche Raum hat keine Lobby. Den meisten ist nicht klar, dass Stadt und Land voneinander abhängig sind.

STANDARD: Wie groß ist der Frust auf dem Land?

Mathis: Der britische Ökonom Paul Collier hat sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt und meint, die Landbevölkerung ist frustriert, weil sie wenig Bildungschancen und Karrieremöglichkeiten hat. Er spricht vom "Hochmut der gebildeten Eliten und Entscheidungsträger in der Stadt" und sieht die Gesellschaft nicht mehr geteilt in Arm und Reich, sondern in Stadt- und Landbevölkerung. Letztendlich macht er diesen Umstand auch für den Brexit verantwortlich.

STANDARD: Und wie sehen Sie das?

Mathis: In Großbritannien ist es sicher so, wie Collier sagt. Das Land hat völlig versagt, wenn es um die Förderung des ländlichen Raumes geht, es gibt keine Infrastruktur und keine Bildungsmöglichkeiten, man hat das Land richtiggehend sterben lassen. In Großbritannien gibt es diese Eliten, von denen Collier spricht, auch in Frankreich gibt es einen zentralisierten Staat mit einer Elite in Paris. Unzufriedenheit zeigt sich dann in Wahlergebnissen, etwa auch in den USA. Bei uns ist das weniger ausgeprägt – deshalb lassen sich Colliers Thesen nicht eins zu eins auf Österreich übertragen. Wir sollten jedoch aus diesen Extrembeispielen lernen, ansonsten kommt es auch bei uns zu sozialen Verwerfungen.

STANDARD: Gibt es auch positive Beispiele?

Mathis: Ja. In Vorarlberg hat man es etwa durch gute Strukturpolitik geschafft, nach dem Niedergang der Textilindustrie neue Strukturen aufzubauen.

STANDARD: Wie kann so etwas gelingen?

Mathis: Wir müssen auch am Land vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, produktive Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze initiieren sowie Wohnraum zur Verfügung stellen. In unserer Arbeit mit den Gemeinden fragen wir die Menschen: Wo wollt ihr in fünf bis zehn Jahren stehen? Die Bürger wissen meist genau, was sie wollen. So haben wir es etwa in der Gemeinde Sulzberg im Bregenzerwald durch die Entwicklung einer Flächensicherungsgenossenschaft geschafft, die Einwohnerzahl von 1.700 vor zehn Jahren auf aktuell 2.000 zu erhöhen.

Gerald Mathis ist Vorstand des Instituts für Standort-, Regional- und Kommunalentwicklung (ISK) in Dornbirn und Leiter des Studiengangs Standort- und Regionalmanagement an der Fachhochschule Vorarlberg.
Foto: ISK-Institut

STANDARD: Welche Rolle spielt Mobilität?

Mathis: Knapp zwei Millionen Österreicher pendeln täglich in die Städte, über 50 Prozent der Menschen leben am Land. Vielerorts fehlen auspendelqualitative Arbeitsplätze. Das bedeutet, dass für viele der tägliche Weg in die Arbeit nicht zumutbar ist. Eine halbe Stunde morgens, eine halbe Stunde abends – das ist akzeptabel, auch wenn in der Zeit 150 Kilometer mit einem Hochgeschwindigkeitszug zurückgelegt werden. Wenn man allerdings jeden Morgen zwei Stunden für 17 Kilometer aus einem Tiroler Tal heraus braucht, hat das keine Qualität mehr. Auch in Wien gibt es Arbeitswege, die nicht mehr auspendelqualitativ sind – wenn man etwa quer durch die ganze Stadt fahren muss.

STANDARD: Hilft die Corona-Krise dem ländlichen Raum?

Mathis: Sie macht jedenfalls Dinge sichtbar. Etwa dass Gemeinden weg von Anlasspolitik und besser planen müssen. Vor allem in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung müssen sie sich untereinander vernetzen. Auch hier gibt es positive Beispiele. So entsteht etwa in Leibnitz in der Südsteiermark derzeit ein neues Industriegebiet, für dessen Umsetzung sich drei Gemeinden zu einer Kleinregion mit wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten zusammengeschlossen haben. Dort entstehen neue Arbeitsplätze für die ganze Südsteiermark, die das Pendeln nach Graz ersparen könnten. Und in Bad Radkersburg entsteht Coworking – für jene Menschen, die von dort täglich eineinhalb Stunden zu ihren Arbeitsplätzen pendeln. Es gibt mittlerweile Firmen, die nur noch über Videokonferenzen arbeiten. Corona hat gezeigt, dass das möglich ist.

STANDARD: Sie kritisieren auch bestehende Förderungen für den ländlichen Raum. Warum?

Mathis: Derzeit werden Projekte geplant, die sich nach den ausgeschriebenen EU-Fördermitteln richten. Doch es müsste umgekehrt sein: Projekte sollten sich eines tatsächlichen Bedarfs annehmen und dann gefördert werden.

STANDARD: Was sollte der Staat konkret für den ländlichen Raum tun?

Mathis: Arbeitsplätze besser auf das Land verteilen, den Breitbandausbau vorantreiben und die Mobilität verbessern. Besonders wesentlich sind aber Hilfestellungen für die Wirtschaft. Überall gibt es Tourismusverbände – auch in strukturschwachen Regionen wie dem Waldviertel oder der Südsteiermark –, aber eine aktive Wirtschaftsentwicklung fehlt. Man müsste auch auf dem Land in eine professionelle Wirtschaftsentwicklung und entsprechende Servicestellen investieren.

STANDARD: Sind Gemeinden offen für Veränderung?

Mathis: Ja, doch wichtig ist, nicht nur das Problem aufzuzeigen, sondern auch zu vermitteln, wie es gelöst werden kann. Ansonsten sind wir wieder bei der Arroganz der Eliten. Kommen Berater von außen, muss man sich zusammensetzen und gemeinsam überlegen. Denn die Prozesse müssen von den Gemeinden und Regionen selbst getragen werden und gewollt sein. (Bernadette Redl, 12.7.2020)