Christian Timm hat einen heiklen Job. Der gelernte Justizwachebeamte und studierte Jurist ist Chef des "Fösn" (Felsen), wie die Insassen die Justizanstalt Stein in Krems nennen. In Stein landen rechtskräftig verurteilte Männer, die eine Freiheitsstrafe von mindestens 18 Monaten ausgefasst haben. Mehr als die Hälfte der Insassen ist als besonders gefährlich eingestuft. Ein Gespräch über Wegsperren und Freiheit.

STANDARD: In Stein sitzen 800 Häftlinge. Wie viele Jahre Freiheitsentzug sind das insgesamt?

Timm: Das habe ich noch nie ausgerechnet. Bei uns dominieren lange und mittellange Strafen, von lebenslang abwärts bis fünf Jahre. Wer zu lebenslang verurteilt ist, bleibt im Schnitt zwanzig Jahre.

Wegsperren sei die ultima ratio, sagt Stein-Direktor Christian Timm. Das Strafrecht könne gesellschaftliche Probleme nicht sanieren.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wie fühlt man sich, wenn man – wiewohl rechtskräftig verurteilten – Leuten die Freiheit nimmt?

Timm: Das ist, als würden Sie einen Arzt fragen, wie er sich beim Operieren fühlt. Es ist eine professionelle Aufgabe, kein Genuss, das fühlt sich nicht toll an. Man schränkt niemanden gerne ein, aber der Vollzug ist eine rechtsstaatlich legitimierte Maßnahme. Und wir versuchen, ihn so sinnvoll wie möglich zu gestalten.

STANDARD: Wie reagieren die Leute eigentlich, wenn Sie sich vorstellen und sagen: "Ich bin Direktor der Haftanstalt Stein"?

Timm: Viele sagen, dass sie sich einen Gefängnisdirektor anders vorstellen, und viele fragen, ob es im Gefängnis so ist, wie man es aus dem Fernsehen kennt.

STANDARD: Und, ist es so?

Timm: Nicht so, wie es in den typischen amerikanischen Gefängnisfilmen dargestellt wird. Die Bevölkerung weiß leider sehr wenig über Haft und Vollzug. Sehr viele, auch sehr Gebildete, glauben: Jetzt ist er verurteilt, sitzt im Gefängnis, und wenn er wieder rauskommt, ist er ein "guter" Mensch.

STANDARD: Als wir in der Hochzeit der Corona-Krise alle daheimbleiben mussten, haben das viele mit dem elektronisch überwachten Hausarrest verglichen, der sogenannten Fußfessel. Lässt sich das wirklich vergleichen?

Timm: Ein wenig schon. Vor ihren eigenen Erfahrungen in der Corona-Zeit haben sich viele den elektronischen Arrest ganz lustig vorgestellt: Man ist daheim und darf zur Arbeit raus. Vielleicht denken jetzt doch einige Menschen anders darüber. Aber ob das nachhaltig ist? Meine Hoffnung darauf hält sich in Grenzen.

STANDARD: Nur 2,8 Prozent aller insgesamt rund 8.800 in Österreich Inhaftierten haben eine Fußfessel. Viele ziehen das Gefängnis vor. Welche Gründe haben sie dafür, abseits der Kostenfrage?

Timm: Zum Beispiel den, dass der elektronisch überwachte Hausarrest den Alltag der gesamten Familie mitbestimmt. Man kann keine Ausflüge, keine Unternehmungen gemeinsam machen, es wird also auch die Freiheit der Angehörigen mit eingeschränkt. Manche sind daher nicht unfroh, wenn der Verurteilte im Gefängnis und nicht daheim ist. Wobei: Das geht in beide Richtungen.

STANDARD: Manche Strafrechtler sagen, Haft ruiniere den Menschen. Tut sie das?

Timm: Haft kann einen schon brechen, Wegsperren ist die ultima ratio. Ich plädiere wie die Experten für weniger Strafen.

STANDARD: Was kann Wegsperren überhaupt bringen?

Timm: Strafvollzug muss die Gesellschaft schützen. Häftlinge können ihr Delikt, ihre Persönlichkeitsdefizite aufarbeiten. Wir hier vollziehen Urteile und machen das Beste daraus. Versuchen, Angebote zu machen, damit die Haft im Rahmen des Möglichen sinnvoll ist. Strafvollzug ist kein Heilmittel, sondern Notwendigkeit, weil noch keinem etwas Besseres eingefallen ist. Grundsätzlich kann das Strafrecht gesellschaftliche Probleme nicht sanieren, da müsste man in der Sozialpolitik ansetzen. Etwa bei Kindern, die in der Corona-Krise ohne Notebook daheimsitzen und dem Unterricht nicht folgen können. Da könnten wir die besten Gefängnisse bauen, noch so viele Delikte mit hoher Strafdrohung schaffen: So würden wir diese Probleme nicht lösen.

Wenn jemand in der Haft seine Muster ändert, sei schon viel erreicht, sagt Timm.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: 2018 entfielen in Österreich auf 100.000 Einwohner 98 Häftlinge, in Schweden 59. Wird hier in Österreich die Freiheit gering geschätzt?

Timm: Für diese Zahlen gibt es viele Gründe. Faktum ist, dass Strafrechtsreformen neue Tatbestände schaffen und Strafdrohungen verschärfen. Experten warnen, dass das nichts bringt oder alles noch schlimmer macht. Und was noch dazukommt: Über ein nur an wissenschaftlichen Grundsätzen orientiertes Strafrecht samt Strafvollzug können Politiker zwar stolpern, wie man in Belgien beim Fall Dutroux gesehen hat, aber Wahlen können sie damit nicht gewinnen. Manche Länder haben einen ganz anderen Zugang zum Thema Bestrafung. Wir in Österreich beschäftigen uns viel zu wenig mit Kriminologie, es gibt keinen Lehrstuhl für forensische Psychiatrie – und dann wird gejammert, dass manche Gutachten nicht passen. In Deutschland gibt es klare Vorgaben und höchstgerichtliche Entscheidungen, wie ein psychiatrisches Gutachten auszusehen hat.

STANDARD: Sie sagen: "Besser wird niemand im Gefängnis, aber anders." Wie anders?

Timm: "Besser" ist ein Werturteil aus überheblicher Sicht. Anders wird man etwa durch Therapie. Ändert jemand in der Haft seine Muster, so ist schon sehr viel erreicht. Im Gesetz steht, der Straftäter muss dem Gemeinschaftsleben angepasst werden. Das ist schon sehr viel verlangt und unrealistisch. Mir würde reichen, wenn er nicht mehr kriminell ist.

STANDARD: Was vermissen Häftlinge denn in der Haft am meisten?

Timm: Sie wollen Sinnhaftigkeit im weitesten Sinn: einen strukturierten Tag mit Arbeit oder Ausbildung und Kontakt mit ihren Angehörigen. Hier in Stein sind diese Voraussetzungen grundsätzlich gut, fast alle Insassen können hier arbeiten.

Der Hochsicherheitstrakt in Stein.
Foto: APA/Fohringer

STANDARD: Aber nicht alle gehen in Therapie und riskieren damit, nicht bedingt entlassen zu werden und länger in Haft bleiben zu müssen. Warum tun sie das?

Timm: Therapie tut weh, da muss man sich mit dem eigenen Delikt und sich selbst beschäftigten. Viele vermeiden das, ich kenne einige, die lieber zwei Jahre länger in Haft bleiben, als sich einer Therapie zu unterziehen und sich mit ihrer Persönlichkeit auseinander zu setzen. Sie berufen sich auf ihre Unschuld und bereiten lieber eine Wiederaufnahme ihres Verfahrens vor. Ich persönlich habe aber in meinem Berufsleben noch nie erlebt, dass das Erfolg hatte und jemand als unschuldig erkannt wurde.

STANDARD: Immerhin ist das eine Wahlfreiheit. Gibt es im Gefängnis auch andere Freiheiten?

Timm: Wenn man mitarbeitet im Vollzug, kann man bedingt entlassen werden und sich die Hälfte der Strafe ersparen. Das ist sehr viel Freiheit. Auch in der Unterbringung gibt es verschiedene Formen der Freiheit. Hier in Stein leben 50 Prozent der Insassen in Wohngruppen, verbringen die Zeit ab 20 Uhr im eigenen Haftraum. Da haben sie Aquarien, Fernseher, Kühlschränke. Diesen Einzelhaftraum schätzen sie als Rückzugsmöglichkeit sehr. Man kann hier zudem in Musik-, Sport-, Seelsorgegruppen mitmachen oder in der "Kuschelzelle" bis zu fünf Stunden ungestört mit Angehörigen verbringen. Auch das ist ein Stück Freiheit. Aber die ganz große Freiheit gibt es natürlich nicht.

STANDARD: Gibt es Leute, die innere Freiheit im Gefängnis finden?

Timm: Ja. Die, die sich mit ihrer Situation abfinden. Die, die Therapien machen. Und die, die sich mit ihren Opfern versöhnt haben. Letzteres kommt aber nicht oft vor.

STANDARD: Und kennen Sie Insassen, die sich frei fühlen?

Timm: Nein, ich glaube nicht, dass sich hier jemand frei fühlt. In Stein wird man auf Schritt und Tritt überwacht. Bei uns sind 450 Häftlinge als besonders gefährlich eingestuft. Bevor sie Lockerungen innerhalb der Haft bekommen, braucht es jede Menge an Vorbereitung und zuletzt auch noch die Erlaubnis aus dem Ministerium.

STANDARD: Und dann gibt es noch die Einzelhaft, in der die wenige Freiheit noch weiter eingeschränkt wird?

Timm: Ja, zum Beispiel Hausarrest als ein Bestrafungsinstrument. Da gibt es dann für kurze Zeit keinen Besuch, keine Vergünstigungen, keine Freizeitgestaltung, kein Telefonieren. Sehr, sehr wenige sehr gefährliche Insassen werden bei uns überdies für längere Zeit ähnlich untergebracht, weil wir die anderen vor ihnen schützen müssen. Diese Unterbringungsform wird aber ständig überprüft, weil der Freiheitsentzug immer verhältnismäßig sein muss.

STANDARD: Was ist Freiheit für Sie?

Timm: Zeit zu haben und meine eigenen Zwänge zu besiegen. (Renate Graber, 11.6.2020)