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Manchmal ist es nur noch zum Aus-der-Haut-Fahren: Weltkomödiant Otto Schenk in "Forever Young", einer Franz-Wittenbrink-Revue im Wiener Josefstadt-Theater (2013).

Foto: Lilli Strauss/dpa

Seine Kunst, die doch keine Gelegenheit zum Possenreißen verschmäht, besitzt etwas abwartend Lauerndes. Sie ist, ihrem sitzenden Wesen nach, raubtierhaft; sie schöpft ihre hinreißende Kraft aus der Reglosigkeit vor dem nächsten Sprung. Otto Schenk ist Österreichs Haupt- und Staatskomödiant. Er verfügt seit bald 70 Jahren über das absolute Gehör für das Ungeschick: für die verzeihliche Unbeholfenheit, mit der Menschen ungebremst von einem Fettnapf in den nächsten steigen.

Dem Dilemma der Schwerkraft hat der Wiener Advokatensohn wiederholt abgeholfen. In dem Theatersolo "Die Sternstunde des Josef Bieder" gelang es Schenk mit seiner gemäßigt pyknischen Erscheinung, die Idee der Grazie perfekt zu veranschaulichen. Als Balletttänzer im Feinrippleibchen schlug er der Gravitation ein Schnippchen. Er zwirbelte seine Erscheinung empor in lichte Anmutshöhen. Das Publikum lachte Tränen. Zugleich war es zutiefst gerührt.

Otto Schenk ist ein womöglich tragischer Schauspieler. Seit gefühlten 25 Jahren, also seit seiner Direktionszeit am Wiener Josefstadt-Theater, mimt er den hinfälligen Greis. Sein bevorzugter Daseinsmodus scheint von Jugendbeinen an das Abschiednehmen. Insofern bildet Schenk, bis hin zu seinen kurrenten Beschäftigungen als Witzeerzähler oder als rheumalindweicher Fernseh-Opa, die vollendete Verkörperung des österreichischen Prinzips.

Frühe Lockerung

In seinem "Adlerauge für das Unwesentliche" (Fritz Kortner) findet eine unmerkliche Entfärbung der Wirklichkeit statt. Keine Einrichtung auf Erden, die es verdiente, zum Besseren gestaltet zu werden. Lieber schon gibt Schenk die Sache des Fortschritts von vornherein verloren! Von allen Handbewegungen ist diejenige Schenks die gut erprobte wegwerfende. Durch sie schüttelt er zugleich die Pointen aus dem Ärmel.

Otto Schenks Haltung gleicht der einer milden Misanthropie. Jeder Anflug von Tragik wird von der eigenen Hinfälligkeit im Nu dementiert. Man glaubt Schenk die Selbsteinschätzung, er habe sich in Wahrheit nie jung gefühlt. In dem aktuellen Geburtstagsschmöker Schenk "Das Buch. Ein intimes Lebensbild" (Molden Verlag) finden sich unzählige Privataufnahmen des Jubilars, viele von Herausgeber Michael Horowitz geknipst. Schon der mittelalte Schenk scheint vornehmlich damit beschäftigt gewesen zu sein, sich geriatrisch zu lockern.

Insofern hält dieser elementargewaltige Künstler nicht der Galligkeit Nestroys, sondern der naiven Zauberkraft Raimunds die Treue. Schenk personifizierte, wie vor ihm vielleicht nur der Kaiser in der Doppelmonarchie, das vorweggenommene Hohe Alter. Im Licht einer solchen Disposition verflüchtigt sich jeder Gedanke an Umsturz und Aufbegehren wie von selbst. Der Zorn weicht sanftest möglicher Mieselsucht.

Schenk focht für das Ideal der "Wahrhaftigkeit", insofern er auch alle von ihm inszenierte Opern, etwa an der New Yorker Met, in den Gefilden der Alltäglichkeit ansiedelte. Der Operngesang schien ihm die Fortsetzung der natürlichen Verständigung, nur mit anderen stimmlichen Mitteln. Als Schauspieler will er die Zuschauer etwas "glauben machen" – und sei es nur die Einsicht, dass alles sich auch wirklich so verhält, wie es den Anschein hat.

Wider den Ungeist der Moderne

Schenks Skepsis gegenüber jeder forcierten Form von Moderne gründet im Abbau von hochgemuten Illusionen. Der "echte, natürliche" Mensch tut gut daran, die Zeichen menschlicher Fehlbarkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. Schenk kredenzt Sachen zum Lachen, aber im Grunde handelt es sich dabei um Handreichungen: Schenk lockert höflich die unsichtbare Hand, die unser aller Kehlen zusammendrückt.

In diesem Komödianten steckt ein Raubtier, an der Seite seines langjährigen, kongenialen Partners Helmuth Lohner konnte man die scharfen Zähne aufblitzen sehen. Otto Schenk, der am 12. Juni seinen 90er feiert, kann getrost weitermachen: Er hatte noch niemals seine Jugend zu verlieren.

Er wird weiter in seinem Refugium am Irrsee von Schnitzler-Figuren wachträumen oder, wie es bei ihm der Brauch ist, einer Meute von Wohlstandshunden vorlesen. Er braucht auch nur kurz den Mund aufzumachen, begleitet von den kalkuliert fahrigen Gesten, die er seit Jahrzehnten bis zur Perfektion einstudiert hat. Vor Schenks Kunst des Understatements ziehen auch Blödler wie Michael Niavarani den Hut. Die Menschen werden über diesen durchtriebenen Greis weiterhin Tränen lachen. Es ist Schenk, der ihnen so das Weinen erspart. (Ronald Pohl, 6.6.2020)