Black Power anno 2020: Black-Lives-Matter-Demos sind so inklusiv wie schon lange nicht – auch viele weiße Amerikaner marschieren wie hier in Brooklyn mit.

Foto: Imago/Vanessa Carvalho

Würgegriff, Schlagstock an der Kehle und das Knie auf dem Nacken. Drei Versionen von "neck restraint" hat der US-Filmemacher Spike Lee, kurz nachdem die Proteste über den Tod von George Floyd begonnen hatten, zu einem Video montiert und veröffentlicht. 3Brothers: Radio Raheem, Eric Garner and George Floyd zeichnet eine Art Moebiusschleife institutioneller Gewalt, und trotz seiner Kürze von knapp eineinhalb Minuten ist der Film nur schwer zu ertragen.

Auf drei Fälle ausgeweitet – Radio Raheem stammt aus Lees eigenem Film Do the Right Thing (1989), basiert jedoch auf dem realen Fall von Michael Stewart –, wirkt die Montage der polizeilichen Hand- und Übergriffe plötzlich absichtsvoll, abgestimmt: ein Ballett des Tötens. "Wird die Geschichte aufhören, sich zu wiederholen?", steht als Frage am Ende auf einem Bildinsert zu lesen.

"400 Jahre lang getötet"

Bei einem bemerkenswerten TV-Auftritt auf CNN stellte Lee die Toten gegenüber dem betreten blickenden Anchorman Don Lemon in ein Verhältnis zur Sklaverei: "400 Jahren lang werden wir getötet." Nicht zuletzt die Pandemie, von der Afroamerikaner besonders betroffen sind, zeige, dass sich endlich etwas ändern müsse. Anderntags zeigte sich Lee dann etwas optimistischer. Er habe schon viele Proteste erlebt, angefangen von den Ausschreitungen nach der Ermordung von Martin Luther King im Jahr 1968, aber noch selten seien die Kundgebungen so divers wie diesmal gewesen. Eine junge Generation von Amerikanern – darunter viele, die weiß sind – würde nicht mehr die Fehler ihrer Eltern und Großeltern wiederholen, so seine Hoffnung.

Der Preis der Befreiung

Man fühlt sich unwillkürlich an James Baldwins berühmten Essay Nach der Flut das Feuer erinnert, in dem der US-Autor mit bestechendem Sinn für Dialektik festhielt, dass es der weiße Mann sei, der neue Standards benötige, denn die Befreiung der weißen Bevölkerung sei nur um den Preis der Befreiung der Schwarzen zu haben. Tatsächlich scheint dies bei den Protesten von Black Lives Matter ansatzweise eingelöst: Ein verändertes Bewusstsein von Universalität schafft sich Raum, so als wollten auch privilegiertere Gesellschaftsteile demonstrieren, dass ein Endpunkt erreicht ist. Gewiss, das Momentum wird auch durch die die fahrlässige Politik von Trump gestärkt, doch man sollte die Einigkeit nicht allein dem Feind gutschreiben.

Konfrontation eines schwarzen Polizisten mit einer Demonstrantin in New York.
Foto: C. Sipkin/Imago

Die Bezeichnung Black Lives Matter geht auf das Jahr 2013 zurück, als der 17-jährige Trayvon Martin vom Mitglied einer Nachbarschaftswache in Florida erschossen wurde. Die Aktivistin Alicia Garza, die immer noch zum Führungskader der dezentralen Bewegung gehört, gilt durch ihr Facebook-Posting "Our Lives Matter" als Urheberin des mittlerweile global verhashtagten Aufschreis. Die Bewegung hat keine offizielle Agenda, ist allerdings anlassgebunden stets auf die Bekämpfung von Polizeigewalt fokussiert gewesen – die Forderungen reichen von einer Abrüstung des Equipments bis zu radikalen Einschnitten: Jüngst war oft der Ruf nach einem "defunding" der Polizei zu hören, einem Budgetentzug als Reaktion auf institutionelle Gewalt, die Schwarze nicht als gleichwertige Menschen behandelt.

Dass die Wirkung der Bewegung bereits bis in die Mitte der Gesellschaft reicht, lässt sich auch an den Reaktionen großer Unternehmen ablesen, die mit ungewohnter Deutlichkeit auf den Tod von George Floyd und die Proteste reagiert haben. Von Netflix, A24 und HBO über Citigroup und Youtube bis zu Ben & Jerry’s gab es Solidaritätsbekundungen und Spenden. Es handelt sich um Gesten, die mehr sind als Marketingkalkül. Sie zeigen auch auf, dass der Einsatz für Diversität und Inklusion, wie ihn Hollywood und die Musikbranche unterschiedlich überzeugend forcieren, allmählich zur Selbstverständlichkeit wird.

Die dahinterliegende Realität

Solche Repräsentationspolitik läuft dennoch in Gefahr, als Scheinheiligkeit kritisiert zu werden. Die nackte Realität bleibt von solchen Symbolaktionen unerreicht. Initiativen wie #blackouttuesday, als der man auf sozialen Medien eine Art kollektive Schweigeminute beging, drohen schon beim nächsten Hashtag das Ziel aus den Augen zu verlieren.

Diese Realität aber ist hartnäckig und beständig: Die Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez spricht davon, dass schwarz zu sein einer "Vorerkrankung" gleichkomme, was sich gerade bei der Pandemie dramatisch gezeigt hätte: Vielen Afroamerikanern steht nicht einmal eine medizinische Grundversorgung zu Verfügung, vor allem Ältere gehören zu den Vulnerabelsten innerhalb der gesamten US-Gesellschaft. Judith Butler scheibt diesbezüglich von einem strukturellen Rassismus, der kein Gesicht hat, dessen Auswirkungen aber nicht weniger tödlich sind.

Es war ein Horrorfilm von 2019, Jordan Peeles Wir (Us), der dieses Gefälle aus Repräsentation und der anderen, medial unterschlagenen Realität als Parabel behandelt hat. Eine schwarze, gutsituierte Familie wird darin von ihren Doppelgängern aus den Katakomben terrorisiert. Ein Jahr später hat die Realität nachgezogen. Doch viele scheinen jetzt zu verstehen, dass man sich nicht fürchten muss. Besser ist es, seine Unzufriedenheit zu deklarieren. (Dominik Kamalzadeh, 6.6.2020)