Es läuft derzeit nicht rund für die ÖVP, ihre Vertreter sind sichtbar nervös. Es häufen sich die Pannen, immer öfter verunglückt die Kommunikation, der grüne Koalitionspartner bockt. Es ist Sand im Getriebe. Die zuständigen Pressesprecher versuchen das schönzureden, das ist ihr Job, und im Vergleich zu den anderen Parteien steht die ÖVP tatsächlich strahlend da. Aber der Höhenflug, zu dem die ÖVP ausgerechnet in der schwersten Krise der Republik ansetzte, ist jäh abgebremst.

Hier spricht Kurz: Wer in diesen Tagen der Regierung öffentlich Kritik ausrichtet, muss mit einem Anruf von ganz oben rechnen.
Foto: Matthias Cremer

Finanzminister Gernot Blümel hat sich und die Wirtschaftspartei ÖVP mit fehlenden Nullen im Budget bis auf die Knochen blamiert, und Kanzler Sebastian Kurz kommt mit dem Rügen der Regierungskritiker kaum noch nach. Wer so erfolgsverwöhnt war, den schmerzen die jüngsten Fehlschläge besonders.

Kritik ist da nicht gefragt. Wer in diesen Tagen der Regierung öffentlich ausrichtet, dass ihre Kompensationsgelder nach dem landesweiten Shutdown allzu kärglich und zögerlich ausfallen, muss mit einem Anruf von ganz oben rechnen. Solche Wutbürger, darunter ungeduldige Fitnessstudiobetreiber, verzweifelte Kaffeehausbesitzer, aufsässige Kompaniekommandanten oder natürlich die Chefredakteure jener Medien, die sich nicht auf Linie befinden, haben dann mitunter Kurz, Köstinger, Tanner und Co höchstpersönlich am Rohr. Oder zumindest einen ihrer engsten Mitarbeiter.

Gute hundert Tage lang hat Türkis-Grün Österreich halbwegs wohlbehalten durch die Pandemie gesteuert – und zwar mit starker Hand von Vater Staat, was für jeden Einzelnen monatelang drastischste Einschnitte bedeutete. Nach der ausbleibenden Gesundheitsmisere tut sich eine Wirtschaftskrise von ungeheurem Ausmaß auf – was die bisher allmächtige Kanzlerpartei ÖVP gehörig stresst. Denn immerhin ist von den Folgen des Lockdowns auch ihre Kernklientel schlimm betroffen: Hoteliers, Gastronomen, abertausende Klein- und Großunternehmer. Nach dem souveränen Auftrittsmarathon von Türkis-Grün macht sich jetzt zunehmend Nervosität in der Regierungsriege breit.

Neue ÖVP, alte Gebote

Für einen Koalitionsinsider sind die Telefonate mit renitenten Staatsbürgern ein Ausdruck dessen, er hält sie für Disziplinierungsversuche nach dem Gebot: "Hände falten, Goschn halten!" Alles, was nicht in die türkise Marketing-Erzählung passe, werde niedergebügelt.

Im Kanzleramt weist man eine solche Haltung gegenüber Kritikern, die Hilfsgelder empfangen, strikt zurück. Dort argumentiert man: "Wir sitzen ja nicht in einem Elfenbeinturm, sondern wollen Politik für die Menschen machen. Wir erkundigen uns in solchen Fällen, was genau das Problem ist, da herrscht null Druck."

Was kritische Journalisten unter der Regentschaft von Kurz schon seit Jahren kennen, kann sich für die Kontaktierten aber genau so anhören, denn: Im besten Fall erkundigt sich das Kabinett Kurz im Detail nach Missständen, um nachzubessern, wie man versichert. Im Worst Case kann es neben dem Verweis, freche Fake-News zu produzieren, aber auch eine Standpauke setzen, an die man sich wohl sein Leben lang erinnert.

Surreale Werte im Sinken

Fest steht, dass nach dem türkisen All-Time-High für die ÖVP von bis zu 48 Prozent Mitte April, also am Höhepunkt der Bekämpfung des Coronavirus, die Umfragewerte derzeit nach unten weisen – was man im Umfeld des Kanzlers frank und frei zugibt. "Uns war immer bewusst, dass dies surreale Werte sind und dass es bald wieder in Richtung 40 Prozent geht", sagt ein Vertrauter von Kurz. Denn zu diesem Zeitpunkt hätten bei der Sonntagsfrage erstmals Leute angegeben, den aktuellen Amtsinhaber zu wählen, "die in ihrem Leben vorher nie und nimmer ihr Kreuz bei Kurz gemacht hätten".

Rückblickend hätten im April Kurz laut Umfragen sogar 55 Prozent direkt zum Kanzler gewählt, derzeit sind es immer noch 45 Prozent. Nach derartig hohem Zuspruch hat Kurz nun zwar wieder Sympathiepunkte eingebüßt, allerdings auf höchstem Niveau – und der Abstand zur zweitplatzierten SPÖ als größter Oppositionspartei beträgt laut Meinungsforschern immer noch sagenhafte zwanzig Prozentpunkte. Doch die Spitze der Popularität scheint gebrochen – auch wenn die Konkurrenz gegen Kurz immer noch alt aussieht.

Was die ÖVP besonders schmerzt: Blümels vergessene Nullen; die Kritik aus der Wirtschaft, die sehr am Selbstverständnis der Partei kratzt; die geschmacklose Geldverteilungsaktion von Arbeitsministerin Christine Aschbacher; schließlich die grünen Ausritte: Justizministerin Alma Zadić demontierte den vermeintlich so mächtigen Sektionschef Christian Pilnacek, einen türkisen Vertrauens- und Verbindungsmann; Infrastrukturministerin Leonore Gewessler holte das rote Urgestein Brigitte Ederer zurück in den ÖBB-Aufsichtsrat. In beiden Fällen wurde die ÖVP nur informiert, aber nicht eingebunden. Es sind jedenfalls grüne Versuche, wieder Kante zu zeigen – auch auf Kosten des Partners.

Intern hält alles still

Zumindest von den eigenen Leuten droht derzeit keine Gefahr. In der ÖVP hält alles still. Die Bünde und Länder stehen nach wie vor treu ergeben zu Kurz als Kanzler, auch wenn die Loyalität nicht immer auf tiefster Überzeugung fußt. Zweifel werden höchstens hinter vorgehaltener Hand geäußert. Der auch nach innen gelebte und von außen autoritär wirkende Führungsanspruch des 33-Jährigen scheint jeden offenen Widerspruch erstickt zu haben. Denn auch das wird in der neuen Volkspartei nicht gerne gesehen, da gibt es sofortige Rückmeldung aus dem Team von Kurz. Die Wortwahl soll auch dabei nicht immer ausgesprochen höflich sein, berichten Betroffene, die einen Rüffel hinnehmen mussten.

Nicht nur hier fehlt es mitunter an jeglichem Respekt, sagt ein Kenner der Kanzlerpartei, sondern auch gegenüber den Verfassungsrechtlern, die auf mangelnde Rechtsgrundlagen diverser Ausgangsbeschränkungen hingewiesen haben, oder gegenüber dem Parlament, etwa wenn die Opposition Versäumnisse bei der Bewältigung der Corona-Krise anprangert – da spiele der Kanzler gelangweilt an seinem Handy herum.

Scheinbar widerspruchslos unterworfen haben sich die Grünen, die bis zu ihrem Koalitionseintritt einmal für ganz andere Werte einstanden, bis dato solchen türkisen Machtdemonstrationen. Vor einigen Wochen zog Werner Kogler immerhin aus der vorübergehenden WG im Kanzleramt mit Kurz aus, seitdem versuchen die Grünen stärker an Profil zu gewinnen.

Mit Grün im Schützengraben

Im Team von Kurz ist man angesichts des pflegeleichten Juniorpartners bis heute voll des Lobes: Wochenlang sei man wegen Corona ja "gemeinsam miteinander im Schützengraben gesessen", erzählt man, "durch dick und dünn gegangen" – und selbst wenn nun wieder politische Normalität einkehre, würden von türkiser Seite "die Hackeln gegen die Grünen nie wieder" so hart und heftig ausgeteilt wie einst zu deren (außerparlamentarischen) Oppositionszeiten. Vor allem die Achse zwischen Kurz, den Ministern Blümel und Nehammer (Inneres) sowie Kogler und Gesundheitsminister Anschober (ebenfalls Grüne) sei "von hohem Respekt" getragen, heißt es.

Die koalitionäre Harmonie, die die ÖVP zu beschwören versucht, gibt es so aber nicht – und es wird eher noch schwieriger werden. Denn gleich hinter dem vereinten türkis-grünen Regierungsquintett gärt es. Und auch der Führungsspitze der Grünen ist klar, dass man sich deutlicher als bisher von der ÖVP abgrenzen muss. Der Vorwurf, dass keine grüne Handschrift erkennbar sei, trifft die Grünen hart. Hier wird und will man bewusst gegensteuern, das wird die ÖVP vor neue Probleme stellen. Ewa Ernst-Dziedzic, die stellvertretende Klubobfrau, sagt: "Die grüne Handschrift gibt es, wir setzen uns auch durch und verhandeln hart mit der ÖVP. Das müssen wir sichtbar machen. Die Volkspartei hat sich das Verhandeln mit uns wohl einfacher vorgestellt." Während der Corona-Krise sei alles gestockt, da gab es kein anderes Thema, jetzt wollen die Grünen umso mehr ihre Themen durchbringen. Das dürfte der ÖVP nicht gefallen: Es geht um das Transparenzpaket, um viele Punkte im Umweltbereich, um einen Aktionsplan gegen Gewalt gegen Frauen, den die ÖVP verschleppe, um Gleichstellung und Menschenrechtsfragen und um den Umgang mit Flüchtlingen. Ernst-Dziedciz: "Da braucht es viele Runden mit der ÖVP, einfach ist es nicht, aber wir sind alle an Lösungen interessiert, ohne bösartigen Blockaden."

Ganz offen sind die Unstimmigkeiten in Europafragen. "Das Verhalten von Kurz wurde in Europa wenig soldarisch aufgenommen", sagt Ernst-Dziedzic, "da halten wir klar dagegen. Dafür braucht es Überzeugungskraft." Da rückt sogar die grüne Klubchefin Sigi Maurer, die sonst brav den Koalitionsacker entlang der vorgegebenen Furchen pflügt, zu einer Rüge für Kurz aus. Dessen Vorpreschen mit der Koalition der "Geizigen Vier" sei schlichtweg ein Fehler.

An der Grenze des Belastbaren

Michel Reimon, ehemaliger EU-Abgeordneter der Grünen und nun im Nationalrat, hält Kurz vor, "kein Freund einer starken europäischen Union und einer europäischen Einigung" zu sein. "Diese Ebene interessiert ihn nicht." Reimon geht in seiner Kritik aber noch einen Schritt weiter. Und er legt es grundsätzlich an. Damit spricht er vielen Grün-Sympathisanten aus dem Herzen. In der Youtube-Talkshow von Kommunikationsberater Rudolf Fußi (Bussi Fussi) übte er offen Kritik an Kurz und der ÖVP. Die Türkisen beurteilt er als "rechtskonservative Autoritäre. Autoritär im Sinne von Macht zentralisieren, und ein kleiner Kreis soll entscheiden. Man merkt es auch daran, wie sie mit Kritik umgehen." Das habe sich bereits bei den Koalitionsverhandlungen gezeigt. Die Grünen hätten gedacht, dass die ÖVP viele Positionen von den Blauen nur mitgetragen habe, merkten aber schnell, dass die Türkisen diese Positionen einfach übernommen haben. "Die haben einen Plan, die Republik umzubauen, umso wichtiger ist es, dass wir da dagegenhalten."

Andere im grünen Klub sehen das noch radikaler. Die Positionen der ÖVP seien an der Grenze dessen, was für die Grünen noch auszuhalten sei. Und es gebe beim Koalitionspartner keinerlei Selbsterkenntnis. "Die glauben immer noch, ihre rechtskonservative Politik ungebremst umsetzen zu können", heißt es. Investitionen in Fahrradwege seien nett, aber gerade in den Bereichen Menschenrechte, Integration und Asyl sei es gar nicht möglich, etwas Grünes reinzubekommen.

Schau nach auf Twitter

Die ÖVP muss sich also darauf einstellen, auch koalitionsintern künftig mehr Gegenwind zu haben. Für Kurz ist das freilich kein Problem. Bei allem Gejammer über vermeintlich ungerechtfertigte Kritik motiviert ihn Widerstand. Erst wenn der Druck auf ihn größer wird, läuft er zur Höchstform auf.

Und was die anderen sagen, zählt sowieso nicht. Beispiel Twitter, wo die Kurz-kritischen Menschen den Ton an- und vorgeben. Dazu ein Kurz-Vertrauter: "Bei uns gibt es mittlerweile die ungeschriebene Regel: Wenn du wissen willst, wie die Leute denken, dann geh einfach auf Twitter. Schau, was dort die Mehrheitsmeinung ist, das Gegenteil von dem ist das, was die Bevölkerung will – insofern ist das für uns fast schon so etwas wie ein kostenloses Umfrageinstrument."

Das lässt sich aus Sicht der türkisen Spindoktoren auch auf die Grünen umlegen: Deren größte Anliegen würden von der Mehrheit der Österreicher abgelehnt oder als exzentrisch wahrgenommen. Die türkise Themensetzung garantiere hingegen den vollen Erfolg – wie bei der Wahl bewiesen. Wenn die handwerklichen Fehler behoben sind, die Kommunikation nachgebessert und der kleine Koalitionspartner wieder diszipliniert ist, dann läuft der Laden wieder. (Michael Völker, Nina Weißensteiner, 6.6.2020)