Mit Gatsch...

Foto: GregorSieböck

...und ohne Gatsch.

GregorSieböck

Im September 2002 steht Gregor Sieböck auf dem Dachstein – und verspürt plötzlich eine Gewissheit: "Es geht jetzt darum, diese große Wanderung zu machen." Schon beim Abstieg legt er geistig das Datum fest, am 30. Juni 2003 marschiert er vier Tage früher als geplant los. Seine Route: einmal rund um die Welt.

Schon früh im Gespräch sagt Sieböck einen Kernsatz: "Ich habe immer das gemacht, was ich wollte." Hat man den 43-Jährigen vor sich, dann überraschen diese Worte wenig. Mit seinem Lachen, dem aufmerksamen Blick und der ungefilterten Kommunikation strahlt er eine einnehmende Lebensfreude aus. Man bekommt das Gefühl: Hier ist einer, dessen Art zu leben es verdient, betrachtet zu werden.

Was dieses "Ich mache, was ich will" wirklich bedeutet, wie weit es ihn von durchschnittlichen Lebensrealitäten weggeführt hat, das versteht man erst später: wenn man hört, was genau Sieböck alles wollte – und deshalb durchgezogen hat.

Anders gemacht

Mitten im Studium zum Zivildienst nach Ecuador abhauen, um sich dort in der Nacht um Straßenkinder zu kümmern, das ist noch für die meisten nachvollziehbar. Den Traumjob bei der Weltbank schmeißen, um als "Weltenwanderer" drei Jahre lang von Oberösterreich nach Tokio zu gehen? Schwieriger. Während des Corona-Lockdowns um je 500 Euro Biochampagner und Zotter-Schokolade kaufen, während man im Haus seines Vaters wohnt? Wird eng. Ja, das hat jetzt nicht in die Aufzählung gepasst. Auch das ist Gregor Sieböck: Mit Schubladen kommt man nicht weit.

Im Leben des Weltenwanderers geht es um Mut, um Vertrauen und um Freiheit. "Ich bin als Einzelkind auf dem Land aufgewachsen und habe wenig Freunde gehabt", sagt Sieböck. Fernsehen interessierte ihn nicht. Während die anderen Kinder in der Volksschule über die aktuellen Sendungen reden, steht der kleine Gregor vor der Österreichkarte und lernt Flüsse und Berge auswendig. "Einer meiner besten Freunde war ein großer Eichenbaum", erzählt Sieböck. Beim Bau der Pyhrnautobahn wurde der zwar bewahrt, der restliche Wald aber gefällt. "Vor der Matura habe ich deshalb entschieden, dass ich mein Leben der Erde widme – und wie wir Menschen in Einklang mit ihr leben."

Rio Baker, Chile.
GregorSieböck

Freiheit statt Karriere

Nach der Zivildienst-Unterbrechung studierte Sieböck Wirtschaft fertig und hängte Umweltwissenschaften an. Danach setzte er für die Weltbank Energieeffizienz-Projekte um: "Es wäre Richtung Diplomatenstatus gegangen, ich hatte im Prinzip ausgesorgt." Dann kam der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, dessen Ergebnisse gegen null gingen. Frustriert beschloss Sieböck, im Juli 2003 loszuwandern.

Sieböck in der "südlichsten Hängematte der Welt" auf der Isla Navarino an der Südspitze Chiles.
GregorSieböck

"Ich habe nicht gewusst, ob ich es körperlich schaffe", erzählt er. Er schaffte es nach Portugal, nach Südamerika, nach Nordamerika, nach Japan, nach Neuseeland, besuchte Umweltprojekte und machte in Schulen und Medien auf seine Themen aufmerksam. "Das größte Geschenk waren die Begegnungen. Die Ärmsten und die Reichsten haben ähnliche Bedürfnisse." Die persönlichste Lektion überbrachte die Neuseeländerin Emily. "Das war eine der intensivsten Begegnungen meines Lebens", sagt Sieböck. Aber er war auf die Ankunft in Tokio fixiert, musste weitergehen. Die Beziehung ging auseinander. "Ich habe wegen des Ziels übersehen, was am Wegesrand war." Sieböck beschloss, künftig anders zu wandern: "Wenn ich wieder gehe, dann entscheide ich an jeder Kreuzung, ob ich links oder rechts abbiege."

Freiheit und Karriere

Sieböck schrieb Bücher, hielt Vorträge, wanderte mit und ohne Ziel, lebte. "Mein Gradmesser bei Entscheidungen ist die Frage: Führt das zu innerer Freude oder nicht?", erklärt er. "Aber das ist mein Weg. Es gilt, nicht zu generalisieren."

Seine Werkzeuge zum Glücklichsein sind keine revolutionären. Der Oberösterreicher hat verinnerlicht, was vor ihm schon viele erkannt haben: dass es nichts bringt, sich pausenlos um Vergangenheit und Zukunft zu sorgen, weil es immer nur den Moment gibt. Dankbarkeit sei "der Schlüssel". Themen, die längst im Mainstream angekommen sind. Nur das kompromisslose Auf-sich-selbst-Hören lebt Sieböck wie kaum ein anderer. Letzten Herbst beschloss er, ab dem 1. April eine zehnmonatige Vortragspause zu machen. Abstand gewinnen, "meinen Weg freilegen. Ich habe gespürt, dass ich mein Potenzial nicht lebe. Das Neue kann erst entstehen, wenn Freiraum da ist."

Sehr selten, aber doch schaut Sieböck fern. Als er vor einigen Jahren den Kinski-Klassiker "Fitzcarraldo" sah, beschloss er, die Oper in Manaus zu besuchen. In den brasilianischen Regenwald kam er via Paris und einem Frachtschiff, in die Oper ging's freilich in kompletter Fitzcarraldo-Montur.
GregorSieböck

Sieböcks Freiheit kommt auch von etwas, das viele als Verzicht empfinden würden: kein Auto, keine Frau, keine Kinder, er lebt in zwei Zimmern im Haus seines Vaters. Handy und Laptop sind zweckmäßig, aber nicht das neueste Modell. In Schuhe investiert er, die braucht ein Wanderer. Und eben auch mal in Schokolade. Freiheit, das ist etwas Individuelles.

Was passiert, wenn man auf sich selbst hört

Allgemeingültige Weisheit lässt sich der ewig Reisende nur eine entlocken: Man möge bitte auf sich selbst hören. "Es geht nicht darum, dass jeder zum Weltenwanderer wird!" Ob Porsche oder Wanderschuhe, "es ist das eine nicht besser als das andere". Aber wer aus tiefstem Herzen Bäcker werden will, solle nicht bei der Bank arbeiten. Sieböck sieht jede Entscheidung als Weichenstellung: Auch wenn die Gleise danach lange parallel laufen, kann sie einen großen Unterschied machen.

"Ich verrenne mich auch", sagt der Weltenwanderer und spricht von Traurigkeit, die ihn dann überkommt. Aber es werde immer seltener, weil er immer genauer auf sich höre. "Ich möchte meinen Weg freilegen. Das führt zu einer riesengroßen Lebensfreude", sagt er. "Man kann jederzeit damit anfangen." Und wer im Alltagsradl diesen Satz an sich heranlässt, der merkt, wie furchteinflößend und befreiend er ist. (Martin Schauhuber, 6.6.2020)