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Christopher Clark genießt nicht nur hohes Renommee in der Fachwelt und zählt zu den meistzitierten Historikern des Welt, sondern macht auch regelmäßig Geschichtsbücher zu Bestsellern. Das lässt ihn zum idealen Gesprächspartner über die historischen Perspektiven der Freiheit werden.

STANDARD: Was verbinden Sie mit dem Wort Freiheit?

Clark: Es wundert mich manchmal, dass Menschen überhaupt etwas einfällt zu diesem großen, luftigen Begriff. Die persönliche Freiheit, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf die freie Äußerung, die Versammlungs-, Bewegungs-, Gewerbe- und Pressefreiheit, all das, was im 19. und 20. Jahrhundert erkämpft wurde, sind unverzichtbare Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. Und vielleicht sind wir im Westen Europas in Gefahr, sie für selbstverständlich zu halten. Als junger Mensch habe ich das Wort dennoch mit Skepsis angesehen. Als ich aufwuchs, war der Freiheitsbegriff in Australien, in den USA, im englischsprachigen Westen sehr stark als Kampfbegriff im Kalten Krieg eingesetzt. Als Argument für den Kapitalismus, für das westliche Gesellschaftsmodell. Wir waren die Freien. Wir kämpften für die Befreiung Vietnams. Dieses Wort ließ sich aber mit dem, was in diesem Krieg geschah, nicht auf einen Nenner bringen. Ich hatte das Gefühl, dass damit, wie das Wort verwendet wurde, Kritik an unserer eigenen sozialen Ordnung unterdrückt werden sollte. Die Aushöhlung des Begriffs stimmte mich skeptisch.

STANDARD: Wir sollten also gar nicht über Freiheit sprechen, weil der Begriff beliebig missbraucht wird?

Clark: Das Wort wurde in der Geschichte sehr oft für das, was wir heute Privileg nennen würden, benutzt. Die Privilegien des alten Adels zum Beispiel hat man als Freiheiten bezeichnet. Erst im späten 18. und 19. Jahrhundert wurde aus der Vielzahl der einzelnen Freiheiten eine große charismatische Abstraktion. Man kann ein Wort aber so lang verbrauchen und verheizen, dass am Ende wenig von seinem ursprünglichen Gehalt drinnenbleibt. Die angelsächsischen Völker haben mit diesem Begriff oft hantiert und das Wort für andere Kulturen unschmackhaft gemacht. Denn meistens wurde die Heuchelei, die da mitspielte, erkannt. Wenn man mit Freiheit eigentlich Handelsfreiheit meint und unter Handelsfreiheit eigentlich die immerwährende Dominanz der Industrienation Großbritanniens versteht, so wie im 19. Jahrhundert, dann verliert das Wort jeden Charme.

Die USA wollten Vietnam "befreien". Die Realität des Krieges sah anders aus.
Foto: EPA

STANDARD: Wobei Großbritannien lange die einzige Demokratie in Europa war.

Clark: Es behaupten manche britische Politiker bis heute, dass der Erste Weltkrieg ein Konflikt zwischen der freien englischen Gesellschaft und den verknechteten Deutschen war, also ein Kampf um die Freiheit. Das ist nur Propaganda. Ich würde sagen, die Kriegsteilnehmer des mittleren und westlichen Europas waren in den Freiheiten nicht sehr unterschiedlich. Das gilt auch für das Habsburgerreich. Das Wien der Jahrhundertwende war keine unfreie Stadt, nicht unfreier als Berlin, Paris oder London. Da muss man sich nur die unglaubliche Literatur und Kunst ansehen, die da entstand.

STANDARD: Es gab ein Zensuswahlrecht, und der Monarch war nicht abwählbar in Österreich.

Clark: Das Österreich der letzten Vorkriegsjahre hatte ein ausgesprochen liberales Wahlrecht, anders als im Königreich Ungarn. Und abwählen kann man den britischen König auch nicht. Die Frage ist, wie viel Macht der Monarch hatte. Im Habsburgerreich sicher mehr als im Vereinigten Königreich. Aber ist das eine Einschränkung der Freiheit? Darüber müsste man nachdenken. Eine Frage, die man sich im 19 Jahrhundert ständig gestellt hat, war, ob freie Gesellschaften besser kämpfen und Krieg führen als unfreie Gesellschaften.

STANDARD: Ist das so?

Clark: Die Abschaffung des Leibeigentums in Russland hing aufs Engste mit dem Scheitern Russlands im Krim-Krieg zusammen (1853–1856). Man meinte, man sei gescheitert, weil die russischen Soldaten nicht aus freien Stücken und aus Liebe zum Vaterland kämpften, sondern weil sie mussten. In Preußen hat man nach Jena und Auerstedt (1806), nach den Niederlagen gegen Napoleon, gemeint, dass etwas am Gesellschaftsmodell nicht stimmte. Es kam daraufhin eine Welle an Reformen, weil man damit die Kräfte in der Gesellschaft wecken wollte. Dazu gehörte die Emanzipation der Juden, sie sollten Staatsbürger werden. Befreite Menschen haben mehr Kraft, und das lässt sich eben auch im Krieg nutzen. Insoweit hat man immer wieder den Schluss gezogen, dass Freiheit und Stärke miteinander einhergehen. Allerdings haben im 20. Jahrhundert die Deutschen für das NS-Regime mit sehr großem Engagement gefochten. Der Nexus zwischen Freiheit und Kampfbereitschaft ist also doch nicht so einfach.

STANDARD: Bleiben wir noch im 19 Jahrhundert: Waren die Menschen damals unfreier als heute?

Clark: Ein wohlhabender, weißer europäischer Mann war im späten 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht, vor allem in persönlicher, freier als heute. Er konnte, um nur ein triviales Beispiel zu geben, überall rauchen. Er konnte ohne Pass reisen. Als Unternehmer konnte er über Arbeitskräfte freier verfügen. Er konnte seine Kinder schlagen. Da sieht man eben: Manches, was für ihn Freiheit bedeutete, war für andere eine Einschränkung. Für Frauen war das 19. Jahrhundert hingegen ein anderer Planet. Sie können heute Kanzlerin werden, wählen, können einen Beruf wählen, sich unabhängig scheiden lassen – lauter Dinge, die im 19. Jahrhundert so nicht für sie existierten.

Lieben, wen sie will: In freien Gesellschaften ist das auch für Frauen leichter geworden. Ein Kuss vor der Berliner Mauer.
Foto: EPA

STANDARD: Weil Sie jetzt sagen, Männer waren damals freier: Gibt es heute Dinge, die wir alle als positiv ansehen, die wir nicht dürfen, in denen wir also stärker eingeschränkt sind als vor 100 Jahren?

Clark: Vieles ist schwer zu fassen, weil der Begriff Freiheit zu porös ist. Ist die Tatsache, dass wir so stark überwacht werden, eine Einschränkung unserer Freiheit? Sie können in London heute nicht eine Straße entlanglaufen, ohne von Kameras gefilmt zu werden. Man hat also nicht mehr die Freiheit, unerkannt durch eine Stadt zu spazieren.

STANDARD: Sind wir durch Corona unfreier geworden?

Clark: Ich sehe es nicht so, dass uns in dieser Krise unliebsame Freiheitsbeschränkungen auferlegt werden. In Großbritannien ist es eher so, dass das Volk ein noch konsequenteres Handeln verlangt, als die Regierung fähig war zu bieten. Die großen Maßnahmen gegen die Epidemien wirken auf den sozialen Vertrag ein: Wenn das Volk nicht mitmacht, funktioniert es nicht. In Großbritannien kann man von einer Übereinstimmung zwischen Bevölkerung und Staat sprechen. Man versteht, dass Einschränkungen nötig sind. In anderen Ländern wie Polen und Ungarn, wo unter der Maske der Epidemie die Rechte von Bürgern eingeschränkt wurden, mag das nochmal anders sein.

Poster aus dem Kalten Krieg.
Foto: EPA

STANDARD: Bleiben wir bei Orbán: Werden wir mit solchen Politikern unfreier?

Clark: Das Problem ist, dass das Wort von allen Seiten missbraucht wird. Orbán hat ja das Gefühl, er "befreit" Ungarn von den NGOs und von Elementen der EU, die Ungarn zu einem unfreien Objekt machen wollten. Solche ganz absurden Beispiele des Missbrauchs dieses Begriffes gibt es in der Geschichte übrigens unzählige. In dem Buch "American Revolutions" zeigt der US-Historiker Alan Taylor, wie das Wort "Liberty" im amerikanischen Unabhängigkeitskampf missbraucht wurde. "Liberty" war das Wort dieser Revolution schlechthin. Aber es stellt sich heraus, dass die junge amerikanische Revolution unter anderem eine für die Erhaltung Sklavenhaltung ist. Die Briten wiederum bieten Schwarzen, die mit ihnen kämpfen wollen, die sofortige Emanzipation. Hier entwickelt sich also der merkwürdige Tatbestand, dass die Revolution für die Freiheit Amerikas zugleich eine ist für die Versklavung der Schwarzen. Heinrich Heine hat das angesprochen. Er schrieb an befreundete Literaten in den 1830er-Jahren: Wohin sollen wir? In diesem alten Europa könne man kaum aufatmen als Liberaler, aber soll man nach Amerika gehen, in dieses Freiheitsgefängnis, wo es die Sklaverei gibt und einen brutalen Hass auf Menschen afrikanischer Herkunft?

STANDARD: Was würden Sie einem jungen Menschen heute raten, der einen Politiker über Freiheit sprechen hört?

Clark: Dass wir uns immer fragen sollten: Welche Art von Freiheit ist gemeint, und welche Interessen werden damit vorangetrieben? (András Szigetvari, 12.6.2020)