Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter. Im Gastkommentar anlässlich der STANDARD-Schwerpunktausgabe Freiheit widmet er sich Risiken, Grenzen und Umcodierungen von Freiheit. In einem weiteren Gastkommentar beleuchtet der Jenaer Philosophieprofessor Klaus Vieweg gängige Fehldeutungen des Begriffs. Und Sebastian Gruber, Redakteur bei "Andererseits", beschreibt, was für ihn Freiheit bedeutet.

Phänomene wie Freiheit gründen auf Gedanken des Überwindens von Barrieren und des Einreißens von Grenzen. Freiheit war und blieb in ihrer Wirkung niemals abstrakt. Riesige Kräfte wurden einst "freigesetzt", die sogar über Jahrhunderte gewachsene monarchische und koloniale Strukturen teils wie Kartenhäuser hinwegfegten. Doch jedes entstandene Machtvakuum wurde erneut gefüllt; etwa durch wirtschaftliche Zwänge oder Konstellationen politischer Macht, welche die Freiheit oftmals erneut einschränkten.

Illustration: Felix Grütsch

Grenzübertritte zur Freiheit …

Viele Prozesse des gestatteten Übertretens von Grenzen und Schwellen wurden im Laufe des Zivilisationsprozesses nicht beseitigt, sondern nur transformiert. Gegenwärtig wird auf digitale Weise Access erteilt, um Barrieren und Schranken zu überwinden. Wer Zugang erhält, hat die Möglichkeit zu Information, Gestaltungsfreiheit und Macht. Wem er verwehrt wird, der verbleibt im marginalisierten Außen, wo Chancen kaum mehr als ein Ausnahmecharakter zukommt. Sichtbar oder nicht, die soziale Wirkung transparenter Trennwände und gläserner Decken bleibt unerbittlich. Daher wendet sich das Ringen um Freiheit auch gegen diese neuartigen Sperren, die wie lautlose digitale Tore schließen. Die Redefreiheit stand und steht in diesem Kampf immer an vorderster Front.

… oder Grenzen einhalten

Die andere Seite der Medaille ist ethisch fundiert. Sie gebietet die Einhaltung von Grenzen. Im Respekt vor dem Gegenüber und der Anerkennung des Anderen fordert sie dazu auf, sich an moralische und humanistische Grenzverläufe zu halten. Diesen Grenzlinien des Respekts, zu denen auch sprachliche zählen, gebührt, dass sie geachtet und keinesfalls übertreten werden.

Akzeptierendes Sich-Fügen und Unterwerfen hätte weder das British Empire noch die Berliner Mauer jemals zum Einstürzen gebracht. Doch wie die Extremwerte auf der Gauß’schen Glockenkurve treibt auch die Freiheit oftmals extreme Blüten. Erhebliche Zerstörungen im Zuge landesweiter Unruhen, wie zuletzt in den USA, so emotional nachvollziehbar diese auch sein mögen, bleiben aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive inakzeptabel. Dessen ungeachtet wäre jede westliche Regierung, die das Divisive und Desintegrative zuerst verbal in die Gesellschaft hineinträgt, rücktrittsreif, sobald ein schrecklicher Anlassfall das selbst befüllte Pulverfass zur Detonation bringt.

Wer denkt, ist nicht wütend

Reaktives Übertreten von Grenzen, das in Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Plünderungen mündet, entspricht weder dem Willen aller Mitglieder einer Gesellschaft noch dem Gemeinwillen im Sinne Jean-Jacques Rousseaus. Zudem sind Ausbrüche von Wut selten Zeichen von Reflexionsprozessen, denn "wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend" (Theodor W. Adorno). Zwar können Denkprozesse zur Steigerung von Gefühlen führen, doch Massen werden nach Elias Canetti primär durch Emotionen gesteuert. Das gilt sowohl für friedliche als auch für bewusst provokative Massenveranstaltungen, von Konzerten über Sportveranstaltungen bis hin zu Demonstrationen. Die Reflexion des Erlebten folgt oftmals erst später.

Schonungslose Free Speech

Die Freiheit des Wortes ist, ebenso wie die Freiheit der Gedanken, unendlich, wenn man sie nur lässt. "Ich bin so frei ... gestatten Sie mir ein offenes Wort", kann das rhetorische Vorspiel zu einer ins Gesicht geschmetterten Beleidigung sein. Doch oftmals ist diese als verbale Injurie empfundene Tirade auch nur die unverblümte, schonungslose Wahrheit.

Das "Wahrsprechen" im Dienste der Freiheit befindet sich seit jeher auf sprachlichem Kampfboden, in offener Gegnerschaft zur Rhetorik und deren Sprachmacht. Es gefährdet die "Kunstgriffe der Überredung", die zu illusionärem Wohlgefallen bei den Zuhörern führen sollen. Vielerorts, auch hierzulande, wurde von Regierungen wahrlich bereits genug des "geheiligten Hausverstandes" rhetorisch über das Land und seine Menschen ergossen. Weniger wäre mehr, denn der die Komplexität reduzierende Hausverstand oszilliert stets zwischen potenzieller Gehaltlosigkeit und gefährlichem Glaubenerwecken, da er in seinem sprachlichen Kern den Inhalt stets unter den Primat des rhetorischen Effekts stellt.

Lüge von der Autonomie

Im Zuge des Freiheitsdiskurses könnten zudem die euphemistisch unter Autonomie firmierenden Entwicklungen als Diktatur der Effizienz bezeichnet werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten werden weniger effiziente Systeme kontinuierlich durch effizientere substituiert. Im Zuge des technologischen und elektronischen Fortschritts wird der Mensch in immer mehr Bereichen zum mit Abstand schwächsten Teil des Gesamtsystems. Er wird daher in letzter Konsequenz systemisch ersetzt, weitgehend aus dem Verkehr gezogen und vermutlich umfassend überwacht werden. Auch das entspricht dem Gegenteil von Freiheit. (Paul Sailer-Wlasits, 6.6.2020)