Wissenschafter geben auf die Frage nach der wissenschaftlichen Freiheit gern lapidare rechtshistorische Antworten: Sie sei unzweifelhaft, unantastbar und in den meisten Staatsgrundgesetzen verankert. Der Zeithistoriker Andreas Wirsching von der ehrwürdigen Ludwig-Maximilians-Universität in München bezeichnete sie sogar als "eine Voraussetzung für die Existenz einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft". Aber welchen Einfluss könnten gesellschaftliche Zwänge wie die Corona-Pandemie auf diese vielbeschworene Freiheit haben?

In der aktuellen Krise werden wissenschaftliche Regeln aufgrund des Drucks, rasch neue Erkenntnisse publik zu machen, außer Kraft gesetzt: Pre-Prints erscheinen ohne vorherige Begutachtung durch Fachkollegen – eine umstrittene Art, mögliche Antworten über den richtigen Umgang mit einer bisher unbekannten Bedrohung zu finden. Das macht Wissenschafter angreifbar, wie an der in Deutschland vieldiskutierten Studie des Virologen Christian Drosten über die Virenlast von Kindern deutlich abzulesen ist.

Wissenschaft wird transparent

Andererseits werden Prozesse in der Wissenschaft damit transparent und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar. Experten antworten auf Studien, kritisieren Details öffentlich, die betroffenen Forscher antworten ebenso coram publico, das Paper wird nachbearbeitet, die Wissenschafter kommen zu einem besseren Ergebnis. Man ist Zeuge einer Evolution des Wissens.

Klaus Schuch vom Zentrum für Soziale Innovationen (ZSI).
Foto: Corn

Es gebe zwar Zwischenrufe, die an der Qualität der Forschung zweifeln, doch sie seien im grundsätzlichen Missverständnis darüber begründet, was Wissenschaft ist, sagt Antonio Loprieno, Vorsitzender des österreichischen Wissenschaftsrats: "Wissenschafter können nie endgültige Antworten geben, sondern nur einen Weg aufzeigen, wie man sie findet", sagt er.

Wie Wissenschaft funktioniert

Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny sieht das ganz ähnlich: "Die Öffentlichkeit kann miterleben, wie Wissenschaft funktioniert", sagt sie. Sie sieht keine aktuelle Gefahr, durch derartige Entwicklungen die Freiheit der Wissenschaft zu gefährden. Der Druck auf die Forscher und Forscherinnen sei aber selbstverständlich gestiegen, werde aber auch wieder nachlassen. Dass jetzt sehr viele Teams am Virus und seiner möglichst raschen Bekämpfung arbeiten, sei logisch. Der "Wasserstand an Arbeiten" sei wie nach einem Hochwasser sehr hoch, bald werde sich die Spreu vom Weizen trennen. Nowotny betont, dass sich viele positive Entwicklungen in den vergangenen Wochen zeigten: "Es ist schön zu sehen, wie schnell sich derzeit internationale Kooperationen zusammenfinden."

Stefan Hornbostel vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wirtschaftsforschung.
Foto: Humboldt Universität

Stefan Hornbostel vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung meint, dass sich am Umgang mit der Corona-Pandemie die Zwickmühle der Wissenschaft zeige. Die angesichts der Krise möglicherweise überzogene Erwartungshaltung an die Forschung, rasch Lösungen zu finden, habe ihren Ursprung in Problemlösungsangeboten, die die Wissenschaft selbst schon Anfang des 20. Jahrhunderts machte. Es gelang ihr, Krankheiten einzudämmen, die Mobilität der Gesellschaft zu verbessern – der Lebensstandard entwickelte sich zum gegenwärtigen Status, sagt Hornbostel.

Nicht ganz unschuldig am Druck

Außerdem sei die Wissenschaft nicht ganz unschuldig an diesem Druck der Gesellschaft. Vor allem durch Großprojekte der Physik, die Weltprobleme wie Energieknappheit lösen sollten (beispielsweise durch den Fusionsreaktor Iter), habe man sich auch selbst in die Rolle des Problemlösers gedrängt. Hornbostel: "Da hat man ganz groß annonciert: Gebt uns das Geld, lasst uns in Ruhe arbeiten – und wir werden eure Probleme lösen."

Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny.
Foto: Hendrich

Natürlich könne die Wissenschaft keine endgültigen Antworten liefern, "aber sie darf sich andererseits nicht nur verweigern", sagt der Experte in Anspielung auf die politische Beratungsfunktion vieler Forscher. "Da muss man die geschützte Werkstätte verlassen." Klaus Schuch, Direktor am Zentrum für Soziale Innovation (ZSI), sieht das ganz ähnlich. Wissenschaft habe derzeit einen sehr hohen Stellenwert, der müsse beibehalten werden. Dafür braucht es evidenzbasierte Politikberatung genauso wie auch die offene Diskussion, ob die in einem Beratungsgremium beschlossenen Schritte überzogen seien, sagt Schuch.

Wichtige Missionsorientierung

Eine Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit durch eine Konzentration auf Problemfelder wie Corona sieht er nicht. Die Missionsorientierung sei wichtig. Ihm fehle freilich eine Weitsicht der Fördergeber in der Problemlösung. "Das Virus werden wir hoffentlich in einem Jahr überwunden haben, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen mit Sicherheit nicht."

Antonio Loprieno, Vorsitzender des österreichischen Wissenschaftsrats.
Foto: Fischer

Forschungsförderung zu Corona dürfe daher nicht nur Life-Sciences, die Suche nach Erkenntnissen über das Virus und nach einem Impfstoff beinhalten, sie müsse auch Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit einschließen. Bisher habe nur der Wiener Wissenschaftsfonds WWTF ein derartiges Programm aufgesetzt, sagt er. Diese ganzheitliche Sicht müsse sich auch bundesweit durchsetzen, damit die von den Wissenschaftern geforderte Problemlösung in allen gesellschaftlichen Bereichen angeboten werden könne. (Peter Illetschko, 7.6.2020)