Im Gastkommentar kritisiert der Schriftsteller Ludwig Laher, dass der Bund bei der Neugestaltung des Hitler-Geburtshauses in Braunau auf die Kunst des Verdrängens setzt.

Das Jahr 2005 war ein Glücksjahr für Marktl am Inn. Ein Sohn der Gemeinde wurde zum großen Sohn, als im Vatikan weißer Rauch aufstieg. Als Joseph Ratzinger, ab sofort Benedikt XVI., Gottes Stellvertreter auf Erden, Marktl 1929 auf Dauer verließ, war er dagegen ein ganz kleiner Sohn, gerade einmal zwei Jährchen alt.

Das hielt weder Kommune noch Wirtschaft ab, nach dem Konklave alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ordentlich zu profitieren: Festlich etikettiertes Papstbier, schokoladegetränkte Benediktschnitte, Benediktpilgerweg nach Altötting, Busparkplätze in großer Stückzahl. Ratzingers Geburtshaus am nach ihm umbenannten Marktplatz, auf dem jetzt eine bronzene Benediktsäule in den Himmel ragt, wurde mit einer freistaatlich-kirchlichen Millionenspritze angekauft, aufwendig zum Museum umgestaltet, ein Nebengebäude als Shop, Kassenraum und Kinosaal adaptiert.

Keine 15 Kilometer innabwärts steht das Geburtshaus eines weiteren geschichtsträchtigen Mannes. Er war erst drei, als die Eltern mit ihm wegzogen. Braunau beklagt sich bitter, mit Adolf Hitler in Verbindung gebracht zu werden, wo der dort doch nur die Windeln füllte, wie ein Bezirkshauptmann es auf den Punkt brachte. Aber das reicht doch, meint Nachbar Marktl zu diesem Argument.

In meinem 2019 erschienenen Buch Wo nur die Wiege stand spüre ich im Kleinkindalter verlassenen Geburtsorten Prominenter von Albert Einsteins Ulm bis Robert Musils Klagenfurt nach. Selbst wenn sie wie diese beiden Herren die zufälligen Schauplätze mütterlicher Niederkunft als für sie unbedeutend erachteten, es nützt nichts. Überall behauptet man, Geburtsorten hafte etwas Auratisches an, und begründet so das Vereinnahmen von Martin Luther bis Engelbert Dollfuß und die Bespielung ihrer Geburtshäuser, sofern sie noch existieren, als Museen.

Grotesk aufgeladen

Hitler lud Braunau schon in Mein Kampf grotesk auf, indem er es als glückliche Bestimmung ansah, dass die Vorsehung ihm gerade Braunau am Inn als Geburtsort zugewiesen habe, ein Städtchen an der Grenze zwischen jenen zwei deutschen Staaten, deren mit allen Mitteln durchzuführende Wiedervereinigung ihm zur Lebensaufgabe geworden sei. Die bescheidene Unterkunft seiner Eltern in einem Miets- und Wirtshaus aber war ihm unangenehm. Vor dem Anschluss Nazi-Pilgerstätte mit Fake -Geburtszimmer, diente das Gebäude im Dritten Reich bloß als Bücherei und Galerie. Das vom Führer raunend überhöhte Braunau, an dem sich Rechtsextremisten bis heute laben, lässt sich vom jetzt beschlossenen Versteckspiel um die Adresse seiner Entbindung nicht einfach wegzaubern. Die Empfehlung der Expertenkommission, dem Haus den Wiedererkennungswert und damit die Symbolkraft zu entziehen, ist ein naiver Fehlschluss. Ein kurzer Blick nach Eisleben zeigt: Luthers "Geburtshaus" ist ein viel größerer Nachfolgebau an gleicher Stelle, den Fans ist das völlig egal.

Der Mahnstein – von der Stadt Braunau vor Adolf Hitlers Geburtshaus errichtet – soll ins Wiener Haus der Geschichte wandern.
Foto: imago

Von irritierender Symbolkraft ist jedenfalls das unsägliche Projekt, das soeben vorgestellt wurde: Man kratzt an der Fassade, also an etwas Oberflächlichem, und möchte so einen Zustand lange vor dem Sündenfall der NS-Barbarei rekonstruieren. Der von der Stadt Braunau vor dem Gebäude errichtete Mahnstein soll im Wiener Haus der Geschichte entsorgt werden, als Reminiszenz an eine offenbar vergangene Zeit, als sein Text "Für Frieden Freiheit und Demokratie – Nie wieder Faschismus – Millionen Tote mahnen" im öffentlichen Raum Braunaus noch tragbar war. Und in Hitlers Geburtshaus sollen ausgerechnet das Bezirkspolizeikommando und andere Polizeistellen einziehen. Eine Neutralisierung, wie der Innenminister behauptet?

Organ der Staatsmacht

Fraglos dient die Polizei heute dem demokratischen Rechtsstaat, doch per se ist sie keine demokratische Institution, sondern in allen Gesellschaftssystemen Exekutivorgan der Staatsmacht. Ein Beispiel: Im Bezirk Braunau gab es zwei schreckliche NS-Lager. Eines davon war das zentrale "Zigeuner"-Anhaltelager Oberdonaus, verwaltet und bewacht von der Kripo Linz. Die Inhaftierten, die dort oder später im besetzten Łódź fast alle zu Tode kamen, waren aber keine Kriminellen, 250 von ihnen sogar Jugendliche und Kinder bis zum Säugling. Die Polizei administrierte in diesem Lager brav Zwangsarbeit, Hunger und Seuchentote, wie man es ihr halt befahl. Es war Adolf Hitler, der für das Gebiet Österreichs unvergleichlich ausreizte, wofür man die Polizei instrumentalisieren kann.

Besser nachvollziehbare Nutzungs konzepte gibt es, etwa ein in die Zukunft gerichtetes internationales Haus der Verantwortung, wo junge Leute aus aller Welt gemeinsam Projekte gegen Rassismus, für Toleranz und Verständigung schmieden. Doch der Bund neutralisiert lieber mit Mahnsteindeportation, Potemkin’scher Fassade und der Polizei.

Braunau ist eine schöne, prosperierende Stadt, die sich Hitlers nicht verschämt entledigen muss, was ohnehin nicht gelingen wird, sondern souverän, entspannt und engagiert mit der unverschuldeten Bürde umgehen könnte. Stattdessen setzt man auf die üble, nur scheinbar überwunden geglaubte Kunst des Verdrängens. (Ludwig Laher, 7.6.2020)