Das Schulzeugnis ist Dauerthema von Bildungsreformen.

Foto: Karl Schöndorfer

Etwa 30 Maturantinnen und Maturanten haben heuer ihre Prüfungsbögen abgegeben, ohne die gestellte Aufgabe zu bearbeiten. Ihnen war klar, dass sie die Reifeprüfung ohnehin bestehen, weil sich die Abschlussnote aus dem Durchschnitt der Jahres- und Maturanote zusammensetzt. "Da wird der Unsinn sichtbar", sagt Ferdinand Eder, ehemals Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg. Es gehe den Schülern um die Noten und nicht darum, zu zeigen, was sie wissen. "Sie sind Opfer eines falschen Leistungsbegriffs", sagt Wilhelm Weinhäupl, Leiter des Montessori-Vereins Salzburg.

Die Corona-Krise zeigt die Grenzen des Bewertungsschemas im Schulsystem auf. Es muss zwingend eine Note her, obwohl die Schulen mehrere Wochen geschlossen waren und die Herausforderungen beim Distance-Learning groß waren. Also werden die Noten aus Semesternote und Mitarbeitsnote während der Zeit des Homeschoolings zusammengeschustert. Mit einem "Nicht genügend" im Zeugnis darf heuer jede Schülerin und jeder Schüler aufsteigen, bei mehreren "Nicht genügend" entscheidet die Klassen- beziehungsweise Schulkonferenz.

Noten infrage stellen

"Es wäre gut, wenn man diese Zeit als Anlass dafür nehmen würde, darüber nachzudenken, wie viele Noten wir wirklich brauchen", sagt Eder. In einem Artikel für die pädagogische Fachzeitschrift "Erziehung und Unterricht" hat er im Herbst 2019 die Aussagekraft von Noten analysiert und kommt zu dem Schluss, dass diese eigentlich nur etwas über die Rangfolge der Schülerleistungen innerhalb einer Klasse aussagen. Dieselbe Leistung einer Schülerin, die in einer Klasse zu einem "Nicht genügend" führt, kann in einer anderen für ein "Sehr gut" reichen. Verschiedene Schulen sind ohnehin nicht miteinander vergleichbar. Es gibt Beispiele, wo sich die Leistungsergebnisse von zwei Klassen um fast zwei Lernjahre unterscheiden, die Notenverteilung innerhalb dieser beiden Klassen aber praktisch identisch ist. Das heißt: Zwei Schüler – einer geht in eine AHS-Klasse mit schwachen Leistungen, einer in eine mit starken – haben ein "Sehr gut" in Mathematik, können aber völlig unterschiedliche Dinge.

Einen weiteren Aspekt kennt Maria Lodjn. Sie ist Lehrerin für Mathematik und Bildnerische Erziehung an einer Neuen Mittelschule im zwanzigsten Bezirk in Wien und schreibt für die Plattform "Schulgschichtn". "Für den einen Schüler ist es eine gute Leistung, wenn er alle Hausübungen abgibt, für die andere ist es eine riesige Anstrengung, pünktlich in die Schule zu kommen." Sie bewerte also verschiedene Leistungen unterschiedlich, je nach Hintergrund des Kindes. In diesem Schuljahr "bastelt" sich Lodjn die Noten zusammen, wie sie sagt. Sie habe im ersten Semester des Schuljahres einen guten Eindruck bekommen, habe aus sieben Monaten ihre Notizen aus dem Unterricht.

Lehrerin: Ohne Druck lernt man besser

Aus der Zeit des Lockdowns lässt sie nur positive Leistungen in die Note einfließen. "Einige sind richtig aufgeblüht, als sie einen Laptop der Stadt Wien bekommen haben, das will ich honorieren." Die Semesternote verschlechtern werde sie in keinem Fall. "Manchen ist es in dieser Zeit wirklich nicht gut gegangen, es gab Grabenkämpfe daheim, keinen Platz, Sorgen der Eltern."

Lodjn wünscht sich generell weniger Notendruck im System. In ihrer Deutschförderklasse muss sie keine Noten vergeben, da sei die Lust am Lernen wesentlich größer. Angst vor schlechten Noten führe oft zu weniger Lernmotivation, nicht zu mehr. "Wenn Schüler gerne in die Schule gehen und Ruhe haben, können sie mehr lernen."

Initiative für Abschaffung der Ziffernnoten

So sieht das auch Weinhäupl vom Montessori-Verein in Salzburg, der Montessori-Pädagogen ausbildet. "Noten verstellen den Blick auf die Leistung", sagt er. "Ein Zweier in Mathematik sagt mir nicht, ob ich das kleine Einmaleins beherrsche", meint Weinhäupl. Viel wichtiger als Ziffern sei für Schülerinnen und Schüler die Information, was sie können und wo sie noch mehr lernen müssen.

Der Pädagoge hat vergangene Woche mit drei anderen Initiativen aus Wien und Vorarlberg eine Petition für die Wiederabschaffung der Ziffernnoten in der Volksschule eingebracht. "In der Öffentlichkeit gibt es den Kurzschluss Note ist gleich Leistung, aber das stimmt einfach nicht." Das Schulsystem brauche einen tiefergehenden Leistungsbegriff. Als Beispiel für ein besseres Bewertungssystem nennt Weinhäupl den Kampfsport Judo. "Da muss ich auch bestimmte Fähigkeiten können, bevor ich den nächsten Gürtel bekomme."

Leistungsbeurteilungen wie im Sport

Auch Erziehungswissenschafter Eder bemüht den Sport als Vergleich. "Ein Fußballer bekommt keine Noten, der Verein listet auf, was er kann. Also etwa wie viele Kilometer er pro Spiel läuft, wie viele Pässe ankommen, wie viele Tore er in der Saison schießt." Wie sollen Leistungen in der Schule also bewertet werden? "Das ist eine schwierige Frage, aber die alternativen Schulmodelle haben schon ein paar gute Antworten", sagt Eder. Für erfolgreiches Lernen seien vor allem direkte und unmittelbare Rückmeldungen an die Schüler wichtig. Beurteilungen sollten auf jeden Fall die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler dokumentieren. "Also das, was sie wirklich können." Ein Zeugnis brauche es, wenn überhaupt, nur für Abschlussklassen.

Die Politik hat sich bisher für eine andere Richtung entschieden. Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) hat verpflichtende Ziffernnoten in der Volksschule mit diesem Schuljahr wieder eingeführt. Das Argument, dass es keine Studie gibt, die eine Objektivität und Sinnhaftigkeit von Noten belegt, lässt er nicht gelten. "Es ist eine politische Entscheidung, wie vieles, was ich entscheiden muss. Nicht hinter jeder Entscheidung gibt es auch eine wissenschaftliche Fundierung", sagte er dazu in einem Interview mit dem STANDARD. (Lisa Kogelnik, 8.6.2020)