SOS Mitmensch fordert die türkis-grüne Regierung auf, den "desintegrativen Nachwirkungen von Türkis-Blau" entgegenzuwirken. Im Bild: Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP).

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Wien – Die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch hat die türkis-grüne Integrationspolitik auf den Prüfstand gestellt und vermisst dabei eindeutige Maßnahmen. In einem am Montag präsentierten Bericht von 28 Expertinnen und Experten wird bemängelt, dass integrative Pläne meist sehr unkonkret formuliert sind – im Gegensatz zu den desintegrativen. Die Finanzierung ist bei vielen Vorhaben noch offen.

Um die Integrations- und Desintegrationspolitik auf Bundesebene zu beurteilen, wurden für den Integrationsbericht 28 Ankündigungen des Regierungsprogramms von ÖVP und Grünen, 14 gravierende integrationspolitische Lücken und sechs markante Nachwirkungen der türkis-blauen Regierungszeit unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: 58 Prozent der Ankündigungen, Lücken und Nachwirkungen werden von den Experten als "großteils oder gänzlich desintegrativ" bezeichnet, berichtete SOS Mitmensch am Montag gemeinsam mit einigen Autoren in einer Online-Pressekonferenz.

Unter der türkis-blauen Bundesregierung waren noch fast drei Viertel der Maßnahmen als "desintegrativ" bewertet worden. Dies zeige, dass "der unter Türkis-Blau gestartete Zug in Richtung Desintegrationspolitik zwar eingebremst, aber nicht gewendet wurde", sagt SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak.

Wenig Konkretes

Betrachtet man rein die Ankündigungen im türkis-grünen Regierungsprogramm, werden zwar 50 Prozent als "integrativ" bewertet. Fast drei Viertel davon sind den Experten zufolge aber sehr unkonkret. Als desintegrativ bewertet wurden etwa separierte Deutschklassen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote und Sozialkürzungen. Integrativ seien etwa der angekündigte Aktionsplan gegen Rassismus und Diskriminierung, ein verstärkter Fokus auf die Integration von Frauen und eine Ausbildungsoffensive zu Deutsch als Zweitsprache.

Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, hofft, dass für alle möglichen Absichtserklärungen wie den Nationalen Aktionsplan auch die nötigen Ressourcen in die Hand genommen werden. Die finanzielle Ausgestaltung sei bisher unklar, sagte sie am Montag. Dabei seien Maßnahmen dringend notwendig, denn die Diskriminierung von Migranten sei nach wie vor groß, berichtete sie.

Diskriminierung bei Bewerbung

Als Beispiel nannte Kohlenberger eine Untersuchung zu Einladungen für Bewerbungsgespräche. Bei gleicher Qualifikation und identem Lebenslauf werden Österreicher demnach eineinhalbmal so oft eingeladen wie Migranten und sogar doppelt so oft wie Menschen mit schwarzer Hautfarbe. "Bei Diskriminierung von Menschen mit nicht weißer Hautfarbe liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld", so Kohlenberger. "Rassismus ist nicht nur in den USA ein Thema", sagte sie.

Die Erziehungswissenschafterin İnci Dirim machte darauf aufmerksam, dass man die Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten viel mehr als berufliche Kompetenz fördern müsse. In Schulen und bei der Polizei geschehe das schon manchmal, oft fehle allerdings die Möglichkeit, aus einer in der Familie gesprochenen Sprache eine berufliche Qualifikation zu machen. Die angekündigte Aus- und Weiterbildungsoffensive zu Deutsch als Zweitsprache findet Dirim "begrüßenswert", ist aber ebenso wie Kohlenberger gespannt auf die Finanzierung, wie sie sagte.

Wahlrecht kein Thema

Auf ein anderes Problem wies der Soziologe, Politologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck bei der Pressekonferenz hin. Er ortet eine "auffällige Lücke" im türkis-grünen Regierungsprogramm, und zwar bezüglich Staatsbürgerschaft und Wahlrecht für Migranten. Diese Lücke verursache Defizite der sozialen und politischen Integration, kritisierte er. Im 15. Bezirk in Wien seien etwa 42 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung nicht stimmberechtigt, sagte der Universitätsprofessor und zeigte nicht nur die Bedeutung für den Einzelnen, sondern auch die weiterführende Konsequenz auf: "Politische Parteien kämpfen nicht um die Stimmen von Einwanderern", so Bauböck. "Sie finden Österreich in einem Teufelskreis", ergänzte er.

Auch die Hürden bei der Einbürgerung seien in Österreich im internationalen Vergleich sehr hoch, sagte Bauböck. Deswegen habe Österreich auch eine niedrige Einbürgerungsquote. Dass bezogen auf diese "gravierende Lücke" im Regierungsprogramm nur "Schweigen" herrsche, findet er nicht gut. Die Regierung selbst habe große Vorbildwirkung, fügte Pollak hinzu. Im Regierungsprogramm fehle die Wertschätzung gegenüber Minderheiten, sagte er und forderte die Politik dazu auf, diese Wertschätzung zu zeigen.

Dialog wieder möglich

Integrationshaus-Geschäftsführerin Andrea Eraslan-Weninger übte zwar auch Kritik an der Regierung und forderte unter anderen eine qualitätsvolle Grundversorgung von Geflüchteten, merkte aber auch an, dass im Vergleich zur türkis-blauen Regierung nun wieder ein Dialog mit der Politik möglich sei. "Vielleicht kommt unser Bericht ja genau zur richtigen Zeit", hofft Pollak deswegen und präsentierte acht Forderungen an die aktuelle Regierung. Dazu gehören etwa eine Konkretisierung und die Umsetzung von integrativen Ankündigungen, die Rücknahme von desintegrativen Ankündigungen und eine Überarbeitung von ambivalenten Maßnahmen.

SPÖ sieht Fortsetzung von Türkis-Blau

Auf den Bericht reagierte prompt die SPÖ. "In den ersten Monaten der ÖVP-Grünen-Regierung sehen wir leider die Fortführung der Symbolpolitik der Kurz-Strache-Regierung", so Integrationssprecherin Nurten Yılmaz in einer Aussendung. Gerade die Corona-Krise habe gezeigt, dass sogenannte Leistungsträger "vieler Herkünfte und Geburtsorte" und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Krise zusammengehalten hätten. (APA, red, 8.6.2020)