Die Grünen leiden an der ÖVP. Manchmal mehr, manchmal weniger. Ein Teil dieses Leidens war absehbar und eingeplant. Weltanschaulich sind die beiden Parteien auf unterschiedlichen Planeten angesiedelt, da muss es Reibungen geben. Manche Grüne hat in der Koalition dann doch überrascht, wie unnachgiebig die ÖVP darangeht, ihre Themen zu kommunizieren und umzusetzen – als ob es den kleinen Koalitionspartner gar nicht gäbe. Sebastian Kurz hat den neuen grünen Freunden gleich einmal gezeigt, wo es langgeht – damit da keine Missverständnisse aufkommen.

Die Corona-Krise hat dann viel zugedeckt, wo es längst gegärt hat. Im Sinne des großen Ganzen haben alle zurückgesteckt. Die Zusammenarbeit in der Regierung war sehr fokussiert, sehr intensiv, sehr gut abgestimmt. Jetzt, da diese Anspannung nachlässt, tritt bei den Grünen wieder stärker die Unzufriedenheit zutage und auch das Bedürfnis, sich einbringen zu wollen. Auch wenn die Umfragen überraschend gut sind, intern gärt es.

Es sei keine grüne Handschrift erkennbar, beschweren sich vor allem jene, die den Grünen nahestehen. Die Rückmeldungen aus den eigenen Netzwerken sind verheerend. In den Bereichen Menschenrechte, Einsatz für Flüchtlinge, Integration, Frauenrechte, Umweltschutz, Tierschutz, europäische Einigung tut sich nichts oder viel zu wenig, so lauten die Befunde.

Profil zeigen

Das erste Aufbegehren kam intern wunderbar an. Als sich die Grünen gegen den als unsolidarisch empfundenen EU-Kurs von Kanzler Kurz wehrten, als im Justizressort und bei der ÖBB Personalentscheidungen fielen, die der ÖVP nicht gefielen und vielleicht sogar gegen sie gerichtet waren, als Druck aufgebaut wurde Richtung Armutsbekämpfung, – da gingen die eigenen Leute begeistert mit. Mehr davon, lautete die Botschaft.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Mehr davon kann es geben. Bei der Arbeitsklausur der Regierung nächste Woche gibt es Gelegenheit: Es geht um sozialpolitische Maßnahmen, um die Auswirkungen der Corona-Krise abfedern zu können, es geht um Investitionen, um eine Ökologisierung der Wirtschaft. Da müsste dem Team des Vizekanzlers doch einiges einfallen.

Die Grünen müssen mehr Profil zeigen, wenn sie sie erstens ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden und zweitens in der Koalition überleben wollen. Das muss über die Kernbereiche hinausgehen. Bei der Regierungsbildung haben die Grünen zwei Fehler begangen: Sie verzichteten auf einen Staatssekretär im Finanzministerium, wo jetzt alle wichtigen Weichenstellungen erfolgen, und sie haben in der Europapolitik der ÖVP komplett das Feld überlassen. Hier werden die Grünen abseits von Ressortzuständigkeiten auf mehr Absprache, Koordination und Information drängen müssen, sonst sind sie in wesentlichen Bereichen außen vor.

Wie viel grüne Kante verträgt Kanzler Kurz? Mehr, als man annehmen würde. Erstens weiß er sich zu wehren, wenn es ihm zu grün werden würde. Zweitens muss auch ihm bewusst sein, dass der kleine Koalitionspartner Bestätigung braucht. Kurz ist ein Machtpolitiker, er schenkt nichts her. Die Grünen werden um ihre Erfolge kämpfen müssen. Das hält die Koalition auch aus, das kann sie auch stärken. Wenn die Grünen auf Augenhöhe agieren wollen, müssen sie mehr Kampfgeist und vor allem Machtbewusstsein entwickeln. Das ist nicht unbedingt sympathisch, aber es wirkt. (Michael Völker, 10.6.2020)