Auf die österreichischen Verfassungsrichter wartet noch viel von der Corona-Krise verursachte Arbeit.

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70 Verfahren zu den Covid-19-Maßnahmen sind beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) derzeit anhängig – zum Großteil sogenannte Individualanträge, mit denen Gesetze und Verordnungen von den jeweiligen Betroffenen direkt beim VfGH angefochten werden können. Die einen Antragsteller stoßen sich an den allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, die anderen an den (euphemistisch als "Untersagung des Betretens von Kundenbereichen" bezeichneten) Betriebssperren.

Gespannt wartet die juristische Fachwelt nun auf die Verteidigungslinie der Bundesregierung. Die vom VfGH großzügig bemessenen Äußerungsfristen, gerechnet ab 1. Mai, laufen diese Woche ab. Der VfGH hat angekündigt, bis Mitte Juli die ersten Entscheidungen zu fassen.

Diese "erste Welle" an Corona-Fällen wird der VfGH gut mit den Werkzeugen bewältigen können, die er sich in der Vergangenheit zurechtgelegt hat: Allgemein gilt eine Zurückweisung aller Anträge als wahrscheinlich. Denn der VfGH hat immer wieder – wenn auch umstritten – judiziert, dass mit dem Außerkrafttreten einer angefochtenen Regelung auch die "aktuelle Betroffenheit" des Antragstellers wegfällt – und es damit keinen Grund mehr für eine inhaltliche Entscheidung gibt.

Größer und herausfordernder

Aber wie auch immer der VfGH die "erste Welle" bewältigen wird, ob mit alten oder neuen Lösungsansätzen: Die "zweite Welle" der Pandemie kommt erst, und sie wird (auch, aber nicht nur beim VfGH) viel größer und herausfordernder werden als die erste: Zum einen werden wohl nicht alle verhängten Verwaltungsstrafen auf Ebene der Landesverwaltungsgerichte (LVwG) aufgehoben werden. Viele Betroffene werden es sich dann nicht nehmen lassen, ihre Strafen beim VfGH zu bekämpfen.

Vor allem aber wird es zu einer Vielzahl an zivilrechtlichen Streitigkeiten kommen. Manches davon werden die Zivilgerichte eigenständig klären müssen, zum Beispiel, ob eine Pandemie ein "außerordentlicher Zufall" im Sinn von Paragraf 1104 ABGB ist.

Aber viele schwierige Rechtsfragen werden relativ rasch beim VfGH und beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) landen, zum Beispiel:

- In Amtshaftungsverfahren wird die Frage auftauchen, ob der Staat jene Einnahmen zu ersetzen hat, die zum Beispiel Mode- oder Möbelhändlern in jenem Zeitfenster nach Ostern entgangen sind, als die Baumärkte bereits öffnen durften;

- In "Sammelklagen österreichischer Prägung" wird es zum Beispiel darum gehen, ob sich Konsumenten nach Veranstaltungsabsagen und Reisestornierungen mit Gutscheinen begnügen müssen und wie weit Eingriffe in die Privatautonomie verfassungsrechtlich zulässig sind;

- In Wettbewerbsverfahren könnte zu klären sein, ob der Verkauf von Unterhaltungselektronik in Supermärkten rechtens war, während Elektrohändler ihre Läden geschlossen halten mussten;

- Und auch die Verweigerung von Leistungen aus den diversen Corona-Hilfsfonds wird zu heißen Diskussionen führen, etwa wenn Unternehmen mit Sitz in einem anderen EU-Land von Hilfsleistungen ausgeschlossen werden, weil die Verlagerung in einen anderen Staat als "aggressive Steuerpolitik" angesehen werden könnte.

Kooperation verschiedener Rechtsbereiche

Gerade weil die erste Welle relativ rasch abebben dürfte, wird in der zweiten Welle viel mehr juristische Kreativität gefragt sein. Die Bedeutung von bisher eher selten ergriffenen Rechtsbehelfen wie dem erst 2015 eingeführten Parteiantrag auf Normenkontrolle wird stark zunehmen; Anwälte verschiedener Spezialisierungen werden öfter kooperieren (müssen) – schon aus Kapazitäts-, vor allem aber aus fachlichen Gründen. Primär im Zivilrecht tätige Anwältinnen und Anwälte werden gut beraten sein, für die komplexen verfassungsrechtlichen Verfahrensschritte auf Verfassungs- und Verwaltungsrecht spezialisierte Kollegen beizuziehen.

Wer weiß, vielleicht gehört zu dem, was in einigen Jahren von der Coronavirus-Pandemie bleiben wird, auch ein Mehr an interdisziplinären und kooperativen Arbeitsmethoden im Rechtsbereich? Es würde weder den Berufsangehörigen noch ihren Auftraggebern schaden. (Alexander Brenneis, 10.6.2020)