Thomas Muster hat vor zwei Wochen gegen seinen Schwager ein Tennismatch bestritten, natürlich auf Sand. Der weitaus jüngere Gegner war chancenlos, das hatte er aber schon vor dem ersten Aufschlag gewusst. Also hielt sich der Frust in Grenzen. Wobei dem 52-jährigen Muster eine Niederlage "ziemlich wurscht" gewesen wäre. An den Matchball kann er sich nicht erinnern, er war kein Teil der österreichischen Sportgeschichte. Zumal es in der Steiermark kein Grand-Slam-Turnier gibt, nie geben wird.

Roland Garros, 11. Juni 1995: Um 17.22 Uhr reißt Thomas Muster die Arme empor.
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Am 11. Juni jährt sich etwas Historisches zum 25. Mal. Es geschah 1995 in Paris, Roland Garros, Finale der French Open. Der Gegner war ein anderes Kaliber als der Schwager, nämlich Michael Chang. Um 17.22 Uhr schlug er eine Rückhand weit ins Out, der damals 27-jährige Muster riss die Arme empor, schrie und schaute in den grauen Pariser Himmel, ließ sich rücklings in den Sand plumpsen. Im Juni 2020 erinnert sich der legendärste Leibnitzer im Gespräch mit dem STANDARD an das 7:5. 6:2, 6:4. "Wunderschöne Sekunden, intime Momente, Befreiung, Auftrag erfüllt. Mein Leben ist im Zeitraffer abgelaufen. Erinnerungen an die Kindheit. Ich wäre gerne ein paar Minuten liegen geblieben. Das ging nicht, ich musste aufstehen, zum Netz laufen, dem Gegner die Hand schütteln."

Lust auf Ruhe

Muster lehnt Sentimentalitäten ab. Denn das Leben spiele sich in der Gegenwart und in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit ab. "Es ist eben passiert, ich richte mich daran nicht täglich auf." Andere mögen das Jubiläum feiern, in Erinnerungen schwelgen. "Ich gehe damit nicht hausieren, habe gern meine Ruhe. Ich war ja damals eh dabei." Okay, er sei Teil der österreichischen Sportgeschichte, stehe auf einer Stufe mit Niki Lauda, Franz Klammer oder Hermann Maier. "Ein 15-Jähriger kann heute mit meinem Namen vermutlich wenig anfangen. Es sei denn, seine Eltern sind im Tennisklub. Alles entwickelt sich rasend schnell weiter. Ich ignoriere die sozialen Medien, mache mich nicht wichtig, gehe kaum in Shows."

Musters Tochter Maxim ist zehn Jahre alt. Der Papa will ihr keine Videos von seinen Heldentaten vorspielen. Nicht einmal, wenn sie schlimm war. "Irgendwann soll sie selber draufkommen. Hin und wieder wundert sie sich, warum Leute ein Autogramm von mir haben wollen."

Wenig später küsst er das Objekt der Begierde, den Coupe des Mousquetaires.
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Damals in Paris sei es in erster Linie darum gegangen, "ein Ding zu Ende zu bringen. Das gilt doch für praktisch jeden. Du gehst in die Schule, machst die Matura, studierst, wirst Facharzt. Bei mit war es eben Tennis." In diesen zwei Wochen habe er nie gezweifelt. "Ich wusste, es liegt ausschließlich an mir. Gegen Chang konnte ich nicht verlieren. Schlimmer war die Warterei. Das Damendoppel davor hat ewig lang gedauert, und das Wetter war schlecht. Es hätte jeden Moment zu regnen beginnen können. Davor hatte ich mehr Angst als vor Chang. Denn dann hätte ich wieder warten müssen."

Ein paar Monate nach den Triumph spuckte der Computer Muster als neue Nummer eins aus. Für sechs Wochen. "Auch toll, emotional aber nicht vergleichbar." Es blieb sein einziger Grand-Slam-Titel, insgesamt hat Muster 44 Turniere gewonnen. Das Lebenspreisgeld betrug ein bisserl mehr als zwölf Millionen Dollar, Dominic Thiem hat bereits jetzt das Doppelte kassiert. "Die Zeiten ändern sich eben." Damals sei die Spitze breiter aufgestellt gewesen, gut ein Dutzend Spieler waren in der Lage, ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen. "Es gab unterschiedliche Beläge, viel mehr Spezialisten." Im Lauf der Jahre fand eine Anpassung statt, andere Bälle, langsamere Böden, besseres Material, nur das Netz ist geblieben. "Seit einer gefühlten Ewigkeit dominieren drei Genies, Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer."

Natürlich habe der Sieg bei den French Open sein Leben geprägt. "Ein Türöffner. Ich kann behaupten, im Sport alles richtig gemacht zu haben." Inwieweit der Unfall von Key Biscayne, bei dem er am 1. April 1989 von einem Auto angefahren und sein Knie fast zertrümmert worden war, die Karriere beeinflusst hat, kann er nicht sagen. "Vielleicht hätte ich ohne die Verletzung Paris früher gewonnen. Oder auch gar nicht. Weil mir der harte Kampf zusätzliche Kraft verliehen hat." Mit dem Image, ein Kämpfer zu sein, habe er sich früh abgefunden. "Ich stand nicht für Spielwitz, konnte aber meine Mittel perfekt einsetzen. Schlauheit, Spielintelligenz, Konsequenz. Und meine Winkelbälle waren sehr speziell, taten weh."

Das Finale in seiner vollen Länge und Schönheit.
Tennis Classic

Kurze Partnerschaft

Muster, in der Immobilienbranche als Entwickler tätig, ist immer wieder im Tennis aufgetaucht. Jenseits der 40 gab er ein Comeback. Er war Daviscup-Kapitän, mischt beim Wiener Turnier mit. Heuer im Jänner wurde er von Dominic Thiem als zusätzlicher Betreuer engagiert, eine historisch kurze Partnerschaft. Warum sie gescheitert ist, weiß er nicht. "Da muss man die Familie Thiem fragen." Prinzipiell traue er Thiem einen ganz großen Titel zu. Irgendwann nach Corona. Muster bleibt aber ewig der Erste. "Das ist wie bei einer TV-Serie. Man schaut den ersten Teil, freut sich auf den zweiten, der dritte geht noch, der vierte ist uninteressant."

Am 11. Juni 2045 wird es 50 Jahre her sein. Muster wäre dann knapp 78. "Ich hoffe, ich lebe. Eventuell habe ich vergessen, was 1995 war." Ob sein Schwager je ein Match gegen ihn gewinnt, ist auch ungewiss. Thomas Muster wäre es "wurscht". (Christian Hackl, 11.6.2020)