In Mathematik gibt es bei der heurigen Matura im AHS-Bereich fast doppelte so viele Nicht genügend wie im Vorjahr. "Retten" kann in einigen Fällen die Note im Abschlusszeugnis.

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Wien – Es ist so gekommen, wie Andreas Vohns erwartet hat. Eigentlich noch schlimmer. Der Mathematikdidaktiker von der Universität Klagenfurt hatte unlängst im STANDARD nach einer ersten Analyse der heurigen AHS-Mathematik-Matura, der schnell der Ruf nachhing, "besonders schwer" gewesen zu sein, gesagt: "Ich würde mit nicht so vielen Einsern rechnen. Auch für Zweier muss man einiges aus Teil zwei holen." Teil 2 war der, den Vohns als "deutlich anders und auch anspruchsvoller als in den Jahren davor" qualifiziert hatte und sich "so nicht stellen getraut hätte".

Nun gibt es erste Zwischenergebnisse, die das Bildungsministerium am Dienstagnachmittag veröffentlicht hat. Sie zeigen bei einem Auswertungsstand von knapp 70 Prozent, dass es bei den Mathe-Klausuren deutlich mehr Fünfer gibt als im Vorjahr, nämlich fast doppelt so viele: 20,9 Prozent (2019: 11,2 Prozent, 2018: 22,4 Prozent, 2017: 11,8 Prozent, 2016: 21,8 Prozent und im Einführungsjahr der Zentralmatura 2015 haben 10,5 Prozent nicht bestanden). "Mit so vielen Nicht genügend hätte ich nicht gerechnet, 15 Prozent, ja, aber über 20 Prozent hat mich, ehrlich gesagt, überrascht", sagt Vohns zu den diesjährigen Ergebnissen in Mathematik.

"Genügend" war die Mathematikleistung heuer von 30,1 Prozent (2019: 25,2 Prozent) der angetretenen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Das heißt, insgesamt hat die Hälfte der AHS-Kandidatinnen und Kandidaten heuer einen Vierer oder Fünfer bei der schriftlichen Klausur erreicht.

Etwas weniger Einser und Zweier

Am oberen Ende der Notenskala gibt es nur relativ kleine Verschiebungen. Ein Sehr gut in Mathematik schafften heuer 6,9 Prozent, im Vorjahr waren es 8,1 Prozent (2018: 8,8 Prozent, 2017: 14,7 Prozent, 2016: 8,6 Prozent, für das erste Zentralmaturajahr 2015 ist nur die Bestehensquote verfügbar: 89,5 Prozent). Zweier gab es heuer 13,6 Prozent (2019: 19,6 Prozent).

Dank der Corona-Maßnahme, dass heuer neben der Klausurnote auch die Zeugnisnote der Abschlussklasse zu gleichen Teilen in die Maturanote einbezogen wird, konnten sich einige Fünfer-Kandidaten "retten": Die Jahresnote reduziert die Fünfer-Quote von 21 auf zehn Prozent. Da sich außerdem alle, die nach wie vor auf einem Nicht genügend stehen, dieses wie bisher bei einer (mündlichen) Kompensationsprüfung ab 22. Juni ausbessern können, könnten am Ende sogar weniger Personen durchfallen als je davor.

In den anderen "großen" Prüfungsfächern Deutsch und Englisch gibt es in AHS wie BHS sowohl etwas mehr Einser als auch etwas mehr Fünfer (AHS: 23 Prozent Einser, 5,5 Prozent Fünfer; BHS: 17 Prozent Einser, 6 Prozent Fünfer). In Englisch wurden wiederum weniger Fünfer verzeichnet (AHS: 7 Prozent, BHS 10 Prozent).

Ursachenforschung angesagt

Jetzt ist Ursachenforschung angesagt, vor allem in Mathematik, das einen klaren Ausreißer darstellt. Vohns, der an der Uni Klagenfurt das Institut für Didaktik der Mathematik leitet, sagt im STANDARD-Gespräch: "Das Problem heuer: Es war halt keine Corona-Matura. Die Testhefte waren im Jänner fertig gedruckt, und man hatte keine Möglichkeit – oder man hat sie nicht ergriffen –, die Matura an die Verhältnisse anzupassen." "Die Verhältnisse" meint das Corona-bedingte Homeschooling, das dazu führte, dass die Maturavorbereitung fast zur Gänze auf Distanz bewältigt werden musste.

Die einzige "Anpassung" sei neben der längeren Bearbeitungszeit die Einberechnung der Jahresnote gewesen, sagt Vohns: "Die verhindert jetzt ja auch die absolute Katastrophe, wie die ersten Ergebnisse zeigen. Man hat gehofft, dass das genügt, um die Testaufgaben nicht anpassen zu müssen. Aber jetzt im Nachhinein stellt sich vielleicht doch heraus, dass das nicht die allerbeste Idee war."

Der für die Reifeprüfung zuständige Sektionschef Andreas Thaller hatte dazu am Dienstag gesagt: "Wir haben nicht mit einer Änderung der Aufgaben reagiert, sondern mit einer Änderung bei der Notenberechnung." Nun müsse "gemeinsam mit Praktikern" analysiert werden, warum man im AHS-Bereich die deutlichen Schwankungen bei den Klausurnoten habe. "Im BHS-Bereich haben wir das besser im Griff."

Drei, vier Beispiele, die blöd laufen

Vohns, der sich in einem Forschungsprojekt mit früheren Maturaaufgaben beschäftigt hat, glaubt, dass in Teil 1, der die Grundkompetenzen testet und für eine positive Note entscheidend ist, "offenbar ein Aspekt unterschätzt wurde: Die Aufgaben waren zwar vom mathematischen Anspruch okay, aber teilweise in der Art zu fragen eher ungewöhnlich. Solche Aufgaben selektieren dann: Gute Schülerinnen und Schüler bringt so etwas nicht aus dem Tritt, aber die 'Wackelkandidatinnen und -kandidaten' werden durch solche Beispiele dann herausgerissen. Dann reichen drei, vier Beispiele, die blöd gelaufen sind – und sie sind negativ."

Was also tun? Experte Vohns pocht zuallererst einmal auf "Verlässlichkeit für Schüler und Lehrer, sie müssen wissen, wie geprüft wird, damit sie sich entsprechend vorbereiten können". Er habe Rückmeldungen von Pädagogischen Hochschulen bekommen, wonach sich einige Lehrerinnen und Lehrer darauf verlassen hätten, "dass die Vorbereitungspakete quasi Analogaufgaben sind. Aber das waren sie definitiv nicht."

Fernlehre hat Fairnessproblem potenziert

Vohns geht es nicht um eine Nivellierung nach unten, ein Argument, das schnell kommt bei Matura-Debatten, zumal in Mathematik, aber er betont doch, dass man die Umstände nicht außer Acht lassen dürfe. Schon in "normalen" Jahren habe man immer die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, die mit unterschiedlichen Voraussetzungen (Elternhaus, Kompetenz der Lehrkräfte und Ressourcen an ihrer Schule etc.) zur Zentralmatura antreten müssen: "Dieses Fairnessproblem potenziert sich bei zwei Monaten Fernlehre." Er hätte daher im Corona-Jahr überhaupt auf die Matura verzichtet – und als Maturanote die erbrachte Jahresleistung herangezogen, denn: "Dafür, dass sich Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler auf die in den Maturavorgaben festgelegten Kompetenzen eingelassen haben, war es wichtig, vier Jahre lang zu glauben, dass es eine zentrale Maturaprüfung geben wird. Die eigentliche Prüfung ist dann im Zweifelsfall eher verzichtbar."

Im Bildungsministerium erklärt man sich die Fünfer-Häufung an den AHS übrigens teilweise auch durch ein "auffälliges" Detail: Heuer sind deutlich mehr Kandidatinnen und Kandidaten als in den Jahren davor angetreten. Das sei ein Indiz dafür, dass viele Lehrerinnen und Lehrer bei der Beurteilung im Jahreszeugnis "kulanter" gewesen seien und im Zweifelsfall auch schwächere Schülerinnen und Schüler zur Matura zuließen, vermutete Sektionschef Thaller. Eventuell könne damit an den AHS auch ein Teil der schlechteren Maturaresultate erklärt werden.

Leere Zettel ein Randphänomen

Die Verweigerer, die leere Zettel abgegeben haben im Wissen darum, dass sie wegen eines Dreiers oder noch besserer Noten im Jahreszeugnis auf jeden Fall auch mit einem Fünfer "durch" sind, dürften ein Randphänomen gewesen sein: An den AHS gab es in Mathe bisher nur eine einzige Maturaarbeit mit null Punkten, an den BHS 16.

Apropos BHS: Für Mathematik-Aficionados, aber vielleicht auch Maturantinnen und Maturanten, die wissen möchten, wo sie Punkte liegengelassen oder schwere Patzer gebaut haben, hat der Mathematiker Benjamin Hackl, Postdoc an der Uni Klagenfurt, so wie schon die AHS-Matura nun auch eine BHS-Klausur, konkret die HTL-2-Matura, durchgerechnet – wer ihm beim Rechnen 2:22:55 Stunden lang zuschauen mag – hier entlang zur Youtube-Matura.

Im STANDARD-Gespräch sagt er, die Beispiele waren "auf einem sehr ähnlichen Niveau wie in den Vorjahren", worauf die ersten BHS-Zwischenergebnisse (Auswertungsstand 50 Prozent) auch hinweisen.

BHS heuer auf besonders gutem Matura-Kurs

Demnach zeichnen sich in den berufsbildenden höheren Schulen heuer außergewöhnlich gute Maturaergebnisse ab. Bei den Klausuren 2020 wurden so viele Einser (13 Prozent) wie noch nie verzeichnet.

Das geht sogar so weit, dass (anders als an den AHS) nach Einbeziehung der Zeugnisnoten mit 11,9 Prozent doch um einige Schüler weniger einen Einser im Maturazeugnis stehen haben. Das bedeutet, dass diese zwar einen Einser auf die schriftliche Matura bekommen haben, im Zeugnis der Abschlussklasse aber bestenfalls einen Dreier gehabt haben.

Insgesamt bessere Klausurergebnisse gab es an den BHS nur 2017, im Jahr nach der Einführung der Zentralmatura auch an den BHS im Jahr 2016: Damals gab es zwar etwas weniger Einser (elf Prozent), aber doch deutlich weniger Fünfer (2017: 8,6 Prozent, 2020: 14,3 Prozent).

Betrachtet man (nach der heuer erstmals erfolgten Einberechnung der Zeugnisnote) nur das Maturazeugnis, liegt der heurige Matura-Jahrgang an den BHS vor den Kompensationsprüfungen überhaupt auf Kurs, der bisher beste zu werden. Im Vergleich zu 2017 gibt es voraussichtlich etwas mehr Einser und weniger Fünfer, dafür weniger Zweier und Vierer und mehr Dreier.

Relativ textlastig, aber auch freiere Beispiele als in der AHS

Was die Mathematik-Matura anlangt, sagt Benjamin Hackl, der schon mit 15 sein Studium begonnen hat und mit 18 jüngster Bachelor- bzw. mit 20 Master-Absolvent an der Uni Klagenfurt war, dass auch die BHS-Variante "wieder relativ textlastig war, aber das ist – zumindest bis zu einem gewissen Grad – für solche 'angewandten' Beispiele auch nötig". Allerdings meint der Mathematik-Profi, dass die zusätzlichen Informationen bei den Rechenbeispielen für ihn im Selbstversuch interessant waren, er aber schon verstehen könne, "dass es für Schülerinnen und Schüler in einer Prüfungssituation eine zusätzliche Belastung ist, zunächst relevante Informationen identifizieren zu müssen".

Hackls Eindruck im Vergleich zur AHS-Matura ist, dass die "Erstellerinnen und Ersteller der AHS-Aufgaben wohl einen wesentlich eingeschränkteren Spielraum für Variation von Aufgabentypen haben als in der BHS. Mir haben die etwas freieren Beispiele in der BHS-Version besser gefallen." Wenngleich das natürlich die Tür öffne für Kritik in der Form "Diese Aufgabe haben wir noch nie gesehen" oder "Neue Aufgaben(typen) bei der Matura sind unerhört!".

Insgesamt lautet das Resümee des Mathematikers zur HTL-Mathematik-Matura 2020: "Keine großen Überraschungen bei der BHS-Matura, aber einige nette Aufgabentypen wie 'Füllen Sie das Kästchen aus' oder 'Kreuzen Sie die falsche Aussage an', die es in der AHS-Matura nicht gibt, die mir dort aber auch sehr gut gefallen würden."

Neos fordern Weiterentwicklung der Zentralmatura

Für Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre sind die ersten Matura-Zwischenergebnisse mit ein Grund, "eine rasche Weiterentwicklung der Zentralmatura, die dann in den nächsten Jahren einmal hält", zu fordern. Unabhängig von den Corona-bedingten Umständen heuer sei es dringend nötig, "für Schüler, Lehrer und Eltern Klarheit zu schaffen, was auf sie bei der Matura zukommt", sagt sie im STANDARD-Gespräch. Das Neos-Modell will Vergleichbarkeit schaffen mit "einigen zentralen Teilen, aber auch flexiblen Maturateilen je nach Schulstandort".

Künsberg Sarre begrüßt jedenfalls ein Weggehen von der "Matura als Tagesverfassungsmatura", indem auch in Zukunft Leistungen vor der Matura in die Maturanote einbezogen werden sollen, denkbar wären die Leistungen der Oberstufe.

Die Neos-Politikerin kritisiert aber auch, "dass es heuer teilweise sehr unterschiedliche Bedingungen gegeben hat". So mussten etwa einige Schülerinnen und Schüler ihre Deutschklausuren mit der Hand schreiben, während es in anderen Schulen genügend PCs für alle gab, kritisiert Künsberg Sarre: "Da muss es eine Lösung geben, sonst verdient das den Namen Zentralmatura nicht, wenn die Vergleichbarkeit nicht gegeben ist."

SPÖ kritisiert Faßmanns "leere Versprechen"

SPÖ-Bildungssprecherin Sonja Hammerschmid wirft Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) vor, er habe den Schülerinnen und Schülern "leere Versprechen" gemacht. Coronabedingte Probleme wie wenig Interaktion mit den Lehrkräften und wenig Übungszeit in der Schule seien offensichtlich anders als versprochen bei der heurigen Zentralmatura nicht berücksichtigt worden, sagte Hammerschmid am Mittwoch mit Verweis auf die "sehr hohe Zahl negativer Klausuren". Sie fordert eine grundsätzliche Reform des Mathe-Unterrichts, damit Mathematik nicht mehr "Angstfach Nr. 1" sei. Dafür brauche es auch neue Wege in der Didaktik und Lehrerausbildung.

Bundesschulsprecherin zufrieden mit ministeriellen Maßnahmen

Recht zufrieden äußerte sich hingegen Bundesschulsprecherin Jennifer Uzodike von der ÖVP-nahen Schülerunion. Die Maßnahmen des Ministeriums, die trotz der Corona-Krise für eine faire Reifeprüfung sorgen sollten, hätten durchaus den erwünschten Erfolg gebracht, zumal sich durch die Einbeziehung der Zeugnisnote nur wenige Schülerinnen und Schüler verschlechtert hätten. Es brauche allerdings weitere Reformen und Evaluierungen der Matura, vor allem das heuer erprobte System müsse "umfangreich diskutiert und evaluiert" werden. Zur besseren Vergleichbarkeit seien zudem einheitliche Hilfsmittel und Standards notwendig. (Lisa Nimmervoll, 10.6.2020)