Foto: Goldmann

[Die Rezension ist noch an der englischsprachigen Originalausgabe aufgemacht, eine Übersetzung erschien aber bald darauf.]

Als großer Fan des Genres bin ich mal über eine Website gestolpert, die ganz dem Tier-Horror verschrieben war. In deren Bibliographie wurden auch eher obskure Werke aufgelistet – etwa eines, in dem Quallen aus dem Meer steigen und trockenen Tentakels über Land stelzen. An unlikely choice of creature, lautete dazu der nüchterne Kommentar. Genau das gleiche habe ich mir gedacht, als mir die Inhaltsangabe von Max Brooks' "Devolution" untergekommen ist. Will der Schöpfer von "World War Z", des vielleicht populärsten Zombie-Romans ever, den Erfolg tatsächlich mit ... menschenfressenden Bigfoots wiederholen? Oder Bigfeet. Sasquatches. Ich weiß nicht mal, was der korrekte Plural ist, das fängt ja gut an.

Tatsächlich ist "Devolution" so unterhaltsam wie erhofft – aber, das sei als Vorwarnung ausdrücklich gesagt, vielleicht nicht ganz auf die Art wie erwartet. Ja, es wird noch ein höllisches Entsetzen und Zerfetzen geben, das sich durch die ganze blutige zweite Hälfte des Romans bis zur extrafiesen Schlusswendung zieht. Davor ist jedoch etwas Geduld angesagt, denn wie schon der Titel andeutet, geht es hier um einen Entwicklungsprozess. Und da hat die Hauptfigur einen wahrlich weiten Weg zu absolvieren.

Die Kriegstagebücher der Kate Holland

Ich-Erzählerin Kate Holland lernen wir kennen, als sie mit ihrem Mann Dan im neugegründeten Hightech-Ökodorf Greenloop im US-Bundesstaat Washington einzieht. Ganze zehn Menschen bewohnen dieses Mini-Utopia, das fernab jeder anderen Siedlung erbaut wurde, aber mit allen technischen Finessen ausgestattet ist. Zu Beginn kriegt sich Kate vor Entzücken über all die Natur gar nicht ein ... und wir gewinnen aus ihren Schilderungen ein bisschen den Eindruck, dass sie nicht die hellste ist: vollgestopft mit Müllwissen über "die richtige Lebensbalance", zudem unsicher bis ins Mark. Doch sie wird sich noch gewaltig mausern. Denn in einer Krise zeigen Menschen ihr wahres Gesicht, wie im Roman mehrfach betont wird.

Dass wir solche Einblicke in Kates Seelenleben erhalten, liegt daran, dass Max Brooks auch hier wieder die Form aufgreift, die er in "World War Z" verwendet hatte. Wie schon der Untertitel des Romans andeutet, ist "Devolution" ein Buch im Buch. Ein ungenannter Journalist versucht besagtes Sasquatch-Massaker zu rekonstruieren. Seine Hauptquelle sind die einen Monat umfassenden Aufzeichnungen Kates, die – wie uns bereits zu Beginn gesagt wird – verschwunden ist. Nur ihr Tagebuch, das sie auf Anraten ihrer Psychotherapeutin führt, konnte gefunden werden. Dazwischen sind Interviews mit Kates Bruder Frank und einer Rangerin eingestreut; insgesamt diesmal also eine recht übersichtliche Collage und fast schon eine herkömmliche Erzählung.

Die Krise kommt nach Greenloop

Das ganzheitliche Leben zwischen Online-Yogakurs und Quinoa-Speisung im Gemeinschaftshaus endet abrupt, als der nahegelegene Vulkan Mount Rainier ausbricht und den halben Bundesstaat verwüstet. Greenloop liegt zwar auf der sicheren Seite, doch macht das begleitende Erdbeben die einzige Straße unpassierbar und kappt die Glasfaserverbindung zur Außenwelt. Die ältere Künstlerin Mostar, die den jugoslawischen Bürgerkrieg miterlebt hat, erkennt als einzige, dass sich hier eine lebensbedrohliche Krise aufbaut: Die Vorräte sind begrenzt, niemand hat Werkzeug oder nützliche praktische Fähigkeiten – und bis sich da draußen jemand an Greenloop erinnert, könnte es lange dauern.

Das Cover der englischsprachigen Originalausgabe.
Foto: Del Rey

Anfangs will niemand auf Mostars Unkenrufe hören, doch nach und nach zieht sie erst Kate und Dan und dann noch die meisten anderen auf ihre Seite. Man poolt die Vorräte und beginnt sicherheitshalber sogar damit, Gemüse auszusäen – und wer weiß, vielleicht würde man so sogar über die Runden kommen. Wäre da nicht noch ein Faktor im Spiel, mit dem wirklich niemand ernsthaft rechnen konnte. Bigfoot eben.

Der Vulkanausbruch hat die Riesenhominiden (Brooks greift auf die Gigantopithecus-Hypothese zurück) ihrer natürlichen Nahrungsquellen beraubt und sie dazu gezwungen, nach neuen Ausschau zu halten. Bis sie auf unser Bobo-Grüppchen treffen und die Gewaltspirale ihren Lauf nimmt. Wie hatte doch Yoga-Lehrerin Yvette gemeint, als sie Kate den "wahren" Kern der Bigfoot-Legende erklärte und esoterisches Gesäusel vom weiblichen Schutzgeist Oma von sich gab? "Feel her energy, her protection. Feel her soft, warm arms around you." – Ja, die wird sie noch fühlen ...

Wohldosierter schwarzer Humor und böse, aber treffende Kommentare geben "Devolution" das gewisse Extra, das es über einen bloßen Monsterschocker hinaushebt. Aufs Korn genommen werden unter anderem das kaputtgesparte und damit dysfunktional gewordene Krisenbewältigungssystem der USA oder auch der Mangel an Vorratswirtschaft – ein Aspekt, den uns aktuell auch die Corona-Krise deutlich vor Augen geführt hat.

Wann setzt die Devolution ein?

Die naheliegendste Interpretation des Titels ist natürlich die (Rück-)Entwicklung moderner Feingeister zu Steinzeitmenschen, die unseren Protagonisten aufgezwungen wird. Mindestens so starke Indizien gibt es aber auch dafür, dass Brooks das genaue Gegenteil gemeint hat: nämlich dass die Bewohner Greenloops in ihrer ursprünglichen Schickimicki-Lebensweise devolviert waren. Denn Evolution ist der Prozess der Anpassung an neue Umweltbedingungen – und an einer Stelle wird explizit gesagt, dass Greenloop als Modell für urbanes Leben in der Wildnis der Versuch war, die Umwelt an die Menschen anzupassen statt umgekehrt.

Pragmatikerin Mostar einmal ausgenommen, könnten die Bewohner Greenloops nicht artifizieller wirken, wenn sie gepuderte Gesichter hätten und Rokokoperücken trügen. Da hätten wir etwa den gönnerhaften Rousseau-Gelehrten Alex, in dessen riesiger Bibliothek kein einziges Buch steht, aus dem sich praktischer Nutzen ziehen ließe. Das lesbische Paar Carmen und Effie, das ein Rohingya-Waisenmädchen adoptiert hat und es Palomino nennt (ein "Platzhaltername", weil es sich später selbst entscheiden darf, wie es heißen will). Oder Yvette mit ihrem Hang zu Gruppenumarmungen, deren erster Gedanke nach dem Vulkanausbruch den armen geschockten Menschen gilt, die am nächsten Morgen in den Nachrichten von der Katastrophe erfahren werden. In der sie selbst steckt. Man weiß mitunter nicht, ob man weinen, lachen oder schreien soll!

Die Beschreibung Greenloops, die das erste Drittel des Romans einnimmt, liest sich wie eine Studie in Lebensunfähigkeit – und so überzeichnet, wie die Charaktere wirken, wie eine Bobo-Satire reinsten Wassers. Herrlich etwa, wenn Mostar zum Potlatch als einzige Essen mitbringt, das Gluten, tierische Butter und sogar Kalorien enthält. That was kind of inconsiderate of Mostar to do that. – Gut möglich, dass real existierende Yvettes solche Passagen nicht als satirisch empfinden würden, das bleibt natürlich Ansichtssache. Der Vorteil meiner Sichtweise ist allerdings, dass man sich so schon bärig amüsieren kann, bevor noch die eigentliche Action beginnt.