Die Frage der Impfungen lässt Debatten hochkochen: Gemeinsame Verantwortung könnte nach der Corona-Krise ein gemeinsames Ziel sein.

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Anfang Juni weltweit 133 Projekte gezählt, die einen Impfstoff (Vakzin) gegen das Coronavirus zum Ziel haben. Geld scheint dabei keine große Rolle zu spielen: Die oberste Prämisse ist, schnell zu einem Präparat zu kommen – wie man allein an der "Operation Warp Speed" der USA sieht. Zehn Milliarden Dollar stehen für die Initiative zur Verfügung. Der Impfstoff soll schon Ende 2020 fertig sein, was viele Experten allzu optimistisch finden. Der gesuchte Impfstoff werde wohl nicht vor 2022 auf den Markt kommen, meint zum Beispiel die Immunologin Ursula Wiedermann-Schmidt von der Med-Uni Wien.

Schon dieser Zeitplan sei ambitioniert, man könne von einem bisher nie da gewesenen Entwicklungstempo reden. Die von vielen Politikern getroffene Aussage, ein normales Leben sei nur mit einem Impfstoff möglich, sei "nicht richtig", betonte die Immunologin in der Diskussionsveranstaltung "Am Puls" des Wissenschaftsfonds FWF. Sie befeuerten damit Ängste in der Bevölkerung. Es werde, so meint sie, eine Reihe von verschiedenen Maßnahmen gegen das Coronavirus geben, etwa auch Medikamente zur Behandlung schwerer Krankheitsverläufe.

Müssen oder wollen

"Eine Impfpflicht werden wir hoffentlich nicht brauchen", meinte Wiedermann-Schmidt. Die Diskussion sei verfrüht. Derzeit seien Wissenschafter noch nicht einmal sicher, wie die Immunisierung gegen das Virus erreicht werden könnte – ob zum Beispiel eine Impfung reicht oder ob es womöglich eine saisonale Anpassung wie bei den Vakzinen gegen die Grippe geben muss. Auch ein völliges Scheitern in der Impfstoffentwicklung wird nicht zur Gänze ausgeschlossen, wenngleich sich das Coronavirus doch von jenen Viren unterscheidet, gegen die es bis heute keine Impfung gibt (das HI-Virus, Hepatitis C). Es verursacht eine akute, keine lebenslange Infektion.

Die deutsche Bundesregierung hatte die Einführung eines Immunitätsausweises diskutiert und die Idee nach Kritik wieder zurückgezogen. Verschwörungstheoretiker hatten schon davor das aus Halbinformationen gewonnene Szenario eines drohenden Impfzwangs verbreitet.

Es werde keine Impfpflicht geben, sagte auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Andere Regierungschefs beeilten sich ebenso, die Bevölkerung mit derlei Versprechungen zu beruhigen. Wie sonst aber könnte man trotzdem die erwünschte hohe Durchimpfungsrate erreichen? Die Politologin Katharina Paul von der Universität Wien sagte in der "Am Puls"-Diskussion, dass es vermehrt Aufklärung von Ärzten brauche. Möglicherweise sollte man auch medizinischem Assistenzpersonal und sogar Apotheken die Erlaubnis geben, Impfwilligen das Vakzin zu injizieren. Die Bereitschaft, sich und seine Umwelt damit zu schützen, steige mit den niederschwelligen Angeboten. Eine Impfpflicht findet Paul problematisch, weil sich dadurch bei Menschen, die "einfach nur zögerlich sind", Widerstand entwickeln könnte – auch gegenüber anderen Impfungen, die dann nicht verpflichtend wären.

Pflicht als Reizwort

Im Rahmen des "Austrian Corona Panel Project" wurden 1.500 Menschen befragt, erzählt Paul. 37 Prozent lehnen eine Verpflichtung zur Impfung ab. Wer bisher dachte, nur die weniger Gebildeten würden dagegen sein, irrt. Paul betont: "Die Impfbereitschaft steigt nicht mit dem Bildungsgrad." Die Bereitschaft nehme mit der Gefahrenwahrnehmung und dem Gemeinschaftsgefühl zu. Ein wichtiges Detail: Eine große Anzahl der Befragten geht davon aus, dass die Impfung gratis sein wird.

Maria Paulke-Korinek, Leiterin der Abteilung Impfwesen im Gesundheitsministerium, steht der Impfpflicht auch aus anderen Gründen differenziert gegenüber. Zum einen hat das Ministerium genau geprüft, ob eine verpflichtende Impfung tatsächlich zur gesteigerten Durchimpfungsrate in einem Land führt. "In Ländern, in denen es eine Impfpflicht gibt, gibt es nicht automatisch auch hohe Durchimpfungsraten in der Bevölkerung", sagt sie. Und umgekehrt: "Es gibt aber auch Länder, in denen auch ohne Impfpflicht viele Menschen Impfungen in Anspruch nehmen." Es kann aber auch ganz anders laufen, meint Wiedermann-Schmidt und erwähnt die Masern-Impfpflicht in Italien. In dieser Phase sei der Zulauf zu Impfungen, auch zu nicht verpflichtenden, größer gewesen als zuvor.

Solidarisch sein

Eine Impfpflicht sollte dennoch die letzte Eskalationsstufe sein, um Menschen dazu zu bringen, einen Schutz gegen gefährliche Krankheiten in Anspruch zu nehmen, sagt Public-Health-Experte Martin Sprenger. Wesentlich wichtiger für eine gute Durchimpfungsrate seien für medizinische Laien verständlich aufbereitete Aufklärungskampagnen, die die Sinnhaftigkeit dieser medizinischen Schutzmaßnahme so darlegen, dass sie nachvollziehbar wird und Menschen sie deshalb auch wollen. Hier hat man in Österreich eindeutig Nachholbedarf. Die Durchimpfungsrate bei Influenza lag 2018/19 bei nur acht Prozent.

Überall dort, wo Impfungen eingeführt wurden, sinkt die Kindersterblichkeit, und die Lebenserwartung steigt: Dafür gibt es überbordende Evidenz. Doch wenn Krankheiten verschwinden, vergessen die Menschen, wie gefährlich sie einst waren.

Die Juristin Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission und Mitglied im Corona-Beratungsstab des Gesundheitsministeriums, sieht die Problematik unter rechtlichen Rahmenbedingungen. Wenn es um Maßnahmen in Richtung Impfempfehlungen bzw. Impfpflicht geht, ist stets auch das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens jedes Einzelnen laut Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu wahren. Das Besondere an Infektionserkrankungen, so Druml, ist jedoch, dass sie ansteckend sind und insofern nicht als reine Privatsache zu betrachten sind, weil sie ja auch andere gefährden. "Die Autonomie des Einzelnen endet dort, wo ich anderen schade", sagt Druml, die sich unter besonderen Bedingungen deshalb auch eine Impfpflicht vorstellen könnte.

Historisch belastet

Wobei ihr bewusst ist, dass das Wort Pflicht in Österreich historisch belastet ist. "Es geht bei Impfungen darum zu verstehen, dass sie auch ein Akt der moralischen Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sind", sagt sie. Damit spricht sie auch die Situation des medizinischen Personals oder der Fachkräfte im sozialen Bereich an. Ungeimpft gefährdet medizinisches Personal die ohnehin schwachen Gruppen. Deshalb sei die Impfung in diesem Bereich "indiziert" und befähige dazu, in diesen Bereichen zu arbeiten. Die Eigenverantwortlichkeit von Spitalsmitarbeitenden ist speziell zu betrachten, so Druml. Juristisch betrachtet müsse ein Krankenhausbetreiber ja sicherstellen, dass Patienten sich während einer stationären Behandlung nicht noch zusätzlichen Gefahren aussetzen müssen – konkret: sich bei Krankenhauspersonal mit Infektionserkrankungen anzustecken. (Peter Illetschko, Karin Pollack, 12.6.2020)