Die Zahl Pi war nicht schuld: Ein Fünftel der AHS-Schülerinnen und -Schüler verirrte sich bei der diesjährigen Matura in den Beispielen.

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Stefan Götz empfiehlt eine systematische und breit angelegte Analyse der diesjährigen Maturaklausuren.

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Die ersten Ergebnisse der diesjährigen Maturaklausuren weisen vor allem Mathematik in den AHS als Problemzone aus. Fast 21 Prozent der schriftlichen Prüfungen wurden dort mit Nicht genügend bewertet (Auswertungsstand 70 Prozent). Immerhin hilft einigen die Jahresnote (mit einem Dreier ergibt sich aufgrund der Corona-bedingten Maturanotenermittlung im Schnitt ein Genügend), um doch noch durchzukommen. Als letzter Rettungsring bleibt die Kompensationsprüfung.

Warum aber waren doppelt so viele AHS-Kandidatinnen und -kandidaten wie im Vorjahr nicht in der Lage, die abgeprüften Kompetenzen auch nachzuweisen? Die im Übrigen nicht zu schwer gewesen seien, meint Stefan Götz. Der Mathematikdidaktiker und Berater des Bildungsministeriums in Sachen Zentralmatura sagt, ohne systematische, tiefgehende und breit angelegte Analyse der Klausuren wird man die Probleme, über die die Schülerinnen und Schüler gestolpert sind, nicht herausfinden. Das muss man sich leisten wollen: "Ich fürchte, viel billiger wird es nicht."

STANDARD: Was sagen Sie zu den ersten Zwischenergebnissen der Matura, die vor allem in den AHS in Mathematik sehr schlecht sind?

Götz: Bei den AHS ist dieser Zweijahresrhythmus schon sehr auffällig, immer zwischen rund zehn und 20 Prozent Nicht genügend pendelnd. Ich kann mir das auch nicht erklären. Diesmal waren es natürlich schwierige Bedingungen. Die Vorbereitung war sicher nicht optimal. Insofern ist man zumindest noch ein bisschen besser als in den vergangenen Jahren, in denen die Fünfer-Rate auch über 20 Prozent war. Da sollte man sich anschauen, wie viele Kandidaten davon im Jahreszeugnis ein Befriedigend hatten und sich vielleicht dachten, etwas Besseres als ein Genügend bekommen sie ohnehin nicht und dann hat vielleicht ein bisschen die Motivation gefehlt. Denn um besser zu werden, hätten sie zumindest ein Gut gebraucht, und Gut ist für viele dann vielleicht doch außerhalb der Reichweite gewesen. Sie haben sich vielleicht nicht so angestrengt, als wenn man da eine andere Regelung gehabt hätte. Wobei ich meine, es waren heuer so schwierige Umstände, dass man ein Jahr mit dieser Eins-zu-Eins-Regelung – also Klausurnote und Jahresnote zählen je 50 Prozent für die Maturanote – leben kann. Das war eine gute Lösung für dieses besonders schwierige Jahr.

STANDARD: Der Klagenfurter Mathematikdidaktiker Andreas Vohns meint, man hätte die Matura-Testhefte, die schon im Jänner fertig gedruckt waren, also vor Corona und Homeschooling, besser noch einmal aufschnüren und neu aufsetzen sollen. Wie sehen Sie das?

Götz: Ich war bis vor einem Jahr selbst an der Aufgabenauswahl beteiligt – jetzt wird das ja ministeriumsintern gemacht – und weiß, dass der Prozess, bis man zu den endgültigen Aufgaben kommt, sehr langwierig und komplex ist und viele Fachleute eingebunden sind. Das hätte man von Jänner bis Mai nicht mehr geschafft. Man hätte sich darauf einlassen müssen, dass man mit Aufgaben zu tun hat, die nicht so genau geprüft wurden wie die, die es jetzt tatsächlich geworden sind. Zyniker würden sagen: Viel schlechter wäre es dann auch nicht ausgefallen. Nachher ist man immer gescheiter. Aber ich glaube, dieser Qualitätskontrollprozess ist dem Ministerium sehr wichtig, und den hätte man dann nicht mehr realisieren können. Darum hat man nicht an diese Möglichkeit gedacht.

STANDARD: Was sagen Sie als Mathematiker inhaltlich zur AHS-Matura? War sie wirklich so viel schwieriger oder sogar zu schwer?

Götz: Für die Typ-1-Aufgaben, und auf die kommt es ja an, um ein Genügend zu erreichen, verneine ich das dezidiert. Die waren sicher nicht zu schwierig. Da frage ich mich wirklich, wie man die nicht können kann als Maturant oder Maturantin. Man müsste daher anschauen, was da passiert ist. Wo haben die Leute ihre Punkte verloren, sodass sie nicht auf die 16 von 24 Punkten, die nötig sind für einen Vierer, gekommen sind? Das kann ich mir so im Trockenen gar nicht vorstellen, dass man das nicht geschafft hat. Die Ausgleichspunkte im Teil 2 waren auch relativ einfach, finde ich. Aber da kann es halt sein, dass man über diese Stufe einfach nicht drübersteigt und diese Aufgaben gar nicht angeschaut wurden und sie dann gar nicht gemerkt haben, dass da der eine oder andere Punkt noch zu holen gewesen wäre. Das ist aber jedes Jahr dasselbe. Ja, in Teil 2 war viel Physik, zwei von vier Aufgaben hatten einen Physik-Hintergrund, aber das steht auch im Kontextkatalog des Zentralmaturakonzepts, dass die Bereiche Physik und Wirtschaftsmathematik immer kommen können ohne nähere Erläuterung. Aber auch diese Aufgaben waren sehr straight ahead. Das hätte man zusammenbringen können, wenn man nicht von vornherein sagt: Aha, mit Physik will ich nichts zu tun haben.

STANDARD: Wie viele Fünfer sind denn eigentlich "normal" oder, sollte man eher sagen, sozial oder politisch akzeptabel?

Götz: Wenn ich Politiker wäre, wäre ich mit diesem seltsamen Zweijahreszyklus auch nicht zufrieden. Ich verstehe, dass sie sagen, sie wollen, dass sich die Nicht-genügend-Quote auf einen Wert einpendelt. Ich glaube, es geht jetzt sogar mehr um das Schwanken als um die absoluten Zahlen, wo man sagt, zehn Prozent sind okay, oder es muss einstellig sein, mit 15 Prozent kann man auch noch leben. Was wirklich störend ist, ist dieser Zyklus.

STANDARD: Welche Erklärung gibt es dafür? Könnte es sein, dass bei den Aufgaben nach einem schlechten Jahr etwas runtergeschraubt wird, dann gibt es zwar weniger Fünfer, aber auch die übliche Diskussion, die war zu leicht, und man legt die Latte wieder etwas höher?

Götz: Es ist jedes Jahr etwas anderes. Heuer war es sicher Corona, das kann man nicht wegdiskutieren. Wobei, in der BHS war genauso Corona, und da sind die Ergebnisse deutlich besser. Das sind halt ganz unterschiedliche Schultypen und Konzepte. Aber um bei der Aufgabenentwicklung eben nicht unbewusst auf die Maturaergebnisse des Vorjahres zu reagieren, hat man sich das sogenannte O-M-A-Modell auferlegt. O steht für Operieren, M für Modellieren und A für Argumentieren – drei wichtige Tätigkeitsbereiche in der Mathematik. Dann wird noch in verschiedene Schwierigkeitsstufen eingeteilt, die Aufgaben werden von Lehrerinnen und Lehrern geratet, und es wird von Termin zu Termin geschaut, dass man eine einheitliche Linie fährt und weder im Niveau noch in der Gewichtung der Tätigkeiten allzu sehr schwankt.

STANDARD: Sie beraten das Bildungsministerium in Sachen Zentralmatura. Welche leiten Sie aus den jetzigen Ergebnissen ab?

Götz: Man müsste die Maturaergebnisse im großen Stil wissenschaftlich analysieren. So, wie es 2016 schon einmal gemacht wurde, eine große Stichprobe von Maturaausarbeitungen einscannen und halt wirklich ein wenig Geld in die Hand nehmen, um sich anzuschauen, was da eigentlich passiert ist. Ich habe eine Diplomarbeit betreut, die sich damit beschäftigt hat, aber das ist natürlich nur ein Anfang. Der Diplomand konnte ja nur ein kleine Stichprobe aus den 1.000 erhobenen Arbeiten heraussuchen und dann auch nur ganz bestimmte Aufgaben auf Fehler analysieren. Wo sind die 16 Punkte verloren gegangen, die man für ein Genügend braucht? Das kann man nur analysieren, wenn man sieht, was da steht, welche Fehler die Leute gemacht haben, ob sie Aufgaben gar nicht angegriffen haben. Nur aus den nackten Zahlen, die die Schulen rückmelden, erkennt man ja nicht, ob jemand früher abgegeben hat oder halt sitzen geblieben ist und nichts mehr gemacht hat, weil die Klausur wegen der Jahresnote sowieso egal war für ein positives Ergebnis. Die wenigsten werden so provokant aufgestanden sein und ein leeres Blatt abgegeben haben wie die rund 40 Bekanntgewordenen. Denen wird man gesagt haben: Bleibts wenigstens sitzen! Das sieht man im Nachhinein natürlich nicht mehr.

STANDARD: Was haben Sie 2016 bei der Studie herausgefunden?

Götz: Wir sind damals schon auf ein paar Dinge draufgekommen, zum Beispiel bei den Multiple-Choice-Distraktoren, also falschen Antwortmöglichkeiten, wo bei einer Aufgabe viele verleitet wurden, etwas Falsches anzukreuzen, weil die Formulierung sie darauf gebracht hat. Hätten wir es anders formuliert, dann hätten weniger Leute das Falsche angekreuzt. Aber das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das müsste man sich, wenn man es wirklich wissen will, in viel größerem Umfang anschauen. Dann bekäme man schon was heraus. Ich fürchte, viel billiger wird es nicht. (Lisa Nimmervoll, 12.6.2020)