Das Angebot scheint unendlich groß zu sein und die Suche nach Partnern anonym und oberflächlich. Verändern Apps unsere Art zu lieben?

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Früher war das alles ein wenig mühsamer. Man musste sich ausgehfein machen, das Haus verlassen, stundenlang in Bars und Clubs rumhängen. Oder man verließ sich auf Freunde und Freundinnen oder gar auf es gutmeinende Tanten und Cousinen. Heutzutage ist das alles viel einfacher. Man sitzt gemütlich zu Hause auf dem Sofa oder sogar auf der Toilette oder steht gelangweilt in der Supermarktschlange. Überall kann man klicken, nach rechts und links wischen, "hot or not" entscheiden. Das Angebot ist groß, die Suchenden wählerisch und launisch.

So ist zumindest der allgemeine Tenor, wenn über die Beziehungsanbahnung und das Dating im Zeitalter der Digitalisierung gesprochen wird. Die Soziologin Eva Illouz sieht in den neuen Technologien sogar eine weitere Bedrohung für die romantische Liebe. Zusätzlich zum Kapitalismus würden nun auch Dating-Apps und soziale Medien dafür sorgen, dass der Mensch zur "Marktware" verkommt. Und tatsächlich ist diese Metapher sehr reizvoll.

Wischen vor dem Joghurtregal?

Konnte man sich früher im Tante-Emma-Laden zwischen Erdbeerjoghurt oder Vollmilchjoghurt entscheiden, steht man jetzt vor endlos langen Regalen. Lernte man früher potenzielle Liebespartner im Freundeskreis oder bei der Arbeit kennen, kann man nun auf zig Portalen und zahlreichen Apps Menschen aus der ganzen Welt kennenlernen. Theoretisch zumindest.

Eigentlich wissen wir noch viel zu wenig darüber, was und wie Menschen in Dating-Apps suchen, sagt der Soziologe Thorsten Peetz. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Soziologische Theorie der Universität Bremen. Eines seiner Forschungsprojekte heißt "Intime Bewertungen. Liebe im Zeitalter von Tinder". Es gibt bereits einige Studien über die Motive der App-Nutzer und -Nutzerinnen, sagt Peetz. "Von Stadtspaziergang bis Partner für BDSM-Praktiken ist alles dabei. Wie im echten Leben auch." Und überhaupt sei es nicht neu, dass Menschen auf mediale Unterstützung zurückgreifen, um potenzielle Gefährten kennenzulernen.

Endlich allein, endlich autonom?

Tatsächlich erschien der erste "Heiratsvorschlag" bereits, einige Jahrzehnte nachdem sich die ersten periodischen Zeitungen etabliert hatten, Ende des 17. Jahrhunderts. Bald gab es auch ganze Magazine, die ausschließlich Kontakt- und Heiratsanzeigen abdruckten. Es folgten Flirtshows im Fernsehen, bevor dann mit dem Internet die ersten Online-Partnervermittlungen auftauchten.

Haben also Tinder und Co nichts Neues für die Partnersuche gebracht? "Die größte Neuerung ist, dass man in dieser ersten Phase, in der einem eine Person zunächst einmal auffällt, von niemanden beobachtet wird. Zumindest nicht von menschlichen Akteuren", sagt Peetz. Das könnte man als letzten Schritt eines langen Befreiungsprozesses sehen, sagt der Soziologe. Die Apps, die Peetz weniger als Dating-Apps, sondern eher als "Anbahnungsapps" bezeichnen würde, befreien uns also von der sozialen Kontrolle und machen unsere Partnerwahl unabhängiger? Nun, dafür gibt es derzeit keine Belege. "Es gibt keine Veränderung der sozialen Homophilie durch das Online-Dating", sagt Peetz. Das heißt, wir wählen noch immer die Partner, die uns ähneln, solche, die etwa den gleichen Bildungsstand haben. Obwohl uns nur Fotos und Texte zur Verfügung stehen, sind unsere Entscheidungen nicht revolutionär anders im Vergleich mit jenen, die wir offline treffen.

Emanzipation und Befreiung?

Wie deuten wir aber die Codes, die uns online zu Verfügung stehen, und wie kommen die schnellen "Wisch"-Entscheidungen bei Tinder im Detail zustande? Diese Frage will Peetz mit seiner Untersuchung, die noch nicht beendet ist, beantworten. Was er aber jetzt schon sagen kann, ist, dass die meisten App-Nutzer klar kommunizieren, was und wen sie suchen. Anders als vielleicht in der analogen Welt, wo vor allem von Frauen sozial erwünschte Kategorien erwartet werden, kann man in einer App klar kommunizieren, dass man One-Night-Stands und nicht mehr will.

Eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten durch das Online-Dating sieht auch die österreichische Soziologin Laura Wiesböck, die sich in ihrer Lehrtätigkeit Themen wie Coolness als kulturelle Praxis ansieht. Offline sei "oft nicht klar, welche Personen eigentlich am Partnermarkt verfügbar sind. Im Gegensatz dazu ist Online-Dating für die Partnersuche systematisch und zielorientiert. Gleichzeitig kann die dortige Sichtbarkeit der Vielzahl an Optionen auch zu einer Entscheidungsschwäche führen – zu einer mangelnden Bereitschaft, sich festzulegen."

Hat man sich aber einmal festgelegt, ist die Beziehung unter Umständen stabiler: Eine US-amerikanische Untersuchung zeigt, dass Paare, die sich online kennengelernt haben, im Vergleich zu reinen "Offline-Paaren" nach einem Jahr mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit noch immer zusammen sind. (Olivera Stajić, 14.6.2020)