Mouhanad Khorchide, Soziologe, Islamwissenschafter und islamischer Religionspädagoge, tritt für eine kritisch-historische Koranexegese ein. Seine Vision eines aufgeklärten, modernen und offenen Islams brachte ihm in Deutschland sogar Morddrohungen ein. Er stand daher zeitweilig unter Polizeischutz.

Foto: Heribert Corn

Nach dem Rücktritt von Fatma Akay-Türker, der einzigen Frau neben 14 Männern im Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), als Frauensprecherin sowie auch als islamische Religionslehrerin hofft der Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide auf tiefgreifende Reformen in der IGGÖ. Er selbst sorgte 2009 mit seiner Studie über den islamischen Religionsunterricht in Österreich für Aufregung. Jeder fünfte Islamlehrer lehnte damals in der Umfrage die Demokratie als unvereinbar mit dem Islam ab. Khorchide verlor seinen Job an der islamischen religionspädagogischen Akademie: "Ich galt einfach als Nestbeschmutzer."

STANDARD: Welche Bedeutung hat der "Es reicht!"-Rücktritt von Fatma Akay-Türker für die IGGÖ, aber auch für die islamische Community in Österreich? Sie wirft der IGGÖ unter anderem vor, dass dort "die Abwertung der Frau institutionalisiert wurde".

Khorchide: Dass ausgerechnet die Frauensprecherin der IGGÖ das Handtuch wirft und der IGGÖ vorwirft, sich für die Anliegen von Frauen kaum zu interessieren, ist alarmierend, denn die Kritik kommt diesmal nicht von außen, sondern von innen, und zwar von der Person, die die Innenverhältnisse sehr gut kennt. Die Kritik von Frau Akay-Türker muss daher ernst genommen werden. Und diesmal hilft es nicht, Kritik einfach als Ausdruck von Islamophobie abzutun. Frau Akay-Türker hat eine der wichtigsten innerislamischen Debatten angestoßen. Dieser Anstoß darf nicht im Sand verlaufen. Ich hoffe auf eine große Solidarität mit der Idee von Frau Akay-Türker, eine Institution für eine innerislamische Aufklärung, was das Thema Frauenrechte angeht, einzurichten, denn nur institutionalisierte Arbeit kann langfristig etwas bewegen.

STANDARD: Die IGGÖ reagierte zuerst nur mit einer Presseaussendung "überrascht" auf Akay-Türkers Rücktritt, wies darin aber auch darauf hin, dass die "Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit" in der muslimischen Gemeinschaft, aber auch in den Strukturen der IGGÖ "ein dezidiertes Anliegen und ein notwendiger Prozess" sei. Am vergangenen Freitag schließlich kündigte IGGÖ-Präsident Ümit Vural eine unabhängige Kommission für die Themen Gleichstellung, Frauenförderung und Diversität in der IGGÖ an. Reicht das?

Khorchide: Ich appelliere an die Verantwortlichen in der IGGÖ, aber auch an alle Involvierten, sich auf die Inhalte der Kritik von Frau Akay-Türker zu konzentrieren und die Debatte nicht zu personifizieren. Denn es geht hier vor allem um die Rechte der muslimischen Frauen innerhalb der muslimischen Gemeinde. Ich habe selbst im Jahr 2009 die schlechte Erfahrung gemacht, nachdem meine Studie über den islamischen Religionsunterricht veröffentlicht wurde und auf einige gravierende Defizite hingewiesen hatte, dass Funktionäre in der IGGÖ mit Kritik an meine Person reagiert haben, statt sich für die Inhalte selbst und für Reformen zu interessieren.

STANDARD: Mit welchem Ziel?

Khorchide: Um sie erstens davon zu überzeugen, ihre beiden von ihr niedergelegten Ämter – Frauensprecherin und Religionslehrerin – wiederaufzunehmen, und zweitens, um ihre Anliegen ernst zu nehmen. Einfach zu leugnen, dass es in sehr vielen Moscheen strukturelle Benachteiligung der Frauen gibt, ist fatal.

STANDARD: Das ist aber ein Phänomen, das viele katholische Frauen auch gut kennen. Dass sie zwar zum Kirchenputzen und für andere Hilfsdienste gut genug sind, aber zum Priestertum reicht das Frausein dann doch nicht ...

Khorchide: Dabei haben wir im Islam weder eine Kirche noch ein Lehramt, die Frauen vorschreiben, was sie tun müssen. Es sind aber die patriarchalisch eingestellten Männer, die die Frauen in die hinteren Reihen verbannen wollen, nicht selten als Ausdruck ihrer eigenen Angst vor starken Frauen. Tragisch ist es jedoch, dass nicht wenige Frauen mitmachen, allein durch ihr Schweigen.

STANDARD: Sie sagen, man sollte die Debatte jetzt nicht personalisieren. Aber der ganze Vorgang findet natürlich nicht im luftleeren Raum statt. Ein Faktum, das Beobachter mit doch großer Irritation aufgenommen haben, ist die Tatsache, dass Frau Akay-Türker von der "Türkischen Föderation" in den Obersten Rat entsandt wurde. Das ist der Moscheeverband der rechtsextremen Partei MHP, hinter der die "Grauen Wölfe" stehen. Welche Rolle spielt dieser Hintergrund bei der jetzigen Debatte? Kann die frauenpolitische Debatte wirklich davon losgelöst betrachtet werden?

Khorchide: Ich drehe das um und meine, wenn gerade aus den eigenen Reihen solcher problematischer Parteien so eine heftige Kritik kommt, dann gibt dies doch Hoffnung, dass Reformen in Sicht sind. Denn die besten Reformen sind diejenigen, die von innen kommen und von den eigenen Anhängern getragen werden. Ich appelliere daher daran, dass immer mehr aufgeklärte Frauen sich in solche konservativen Institutionen einbringen sollten, um die Basis zu erreichen und aufzuklären. Frau Akay-Türker hätte daher niemals das Handtuch werfen dürfen, sondern nach Gleichgesinnten in ihrer Partei suchen sollen.

STANDARD: Die andere Tangente neben der Abwertung und Geringschätzung der Frauen, die Frau Akay-Türker in ihrer Kritik anspricht, ist eine theologische: Sie wirft der IGGÖ vor, eine "männerdominierte Theologie" oder "Zwangstheologie" zu vertreten, die die Entfaltung von muslimischen Frauen behindere. Wo steht denn die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich in dieser Hinsicht?

Khorchide: Das bisherige Motto, auch der Vorgängerin von Frau Akay-Türker (Carla Amina Baghajati, nunmehr Leiterin des Schulamts der IGGÖ, Anm.), war gekennzeichnet durch Schönreden von allem, um möglichst die Fassade zum Glänzen zu bringen. Man argumentiert immer wieder mit den drei Imamekonferenzen, die die IGGÖ bislang organisiert hat (2003, 2005, 2010), aber wo bleibt der theologische Ertrag und vor allem die kritische Reflexion einiger Positionen, die von vielem Imamen vertreten werden? Solche Konferenzen sollten dazu dienen, innerislamische Diskurse anzustoßen, und gerade die Frauenthematik zählt zu den wichtigsten und akutesten.

STANDARD: Wie muss sich denn aus Ihrer Sicht das islamische Verständnis der IGGÖ reformieren, um die strukturelle Benachteiligung der Frau abzubauen?

Khorchide: Das sind mehrere Punkte: Frauen sollten in den Moscheen keineswegs in separaten Räumen beten, wo sie nicht einmal den Vorbeter oder den Prediger sehen. Frauen sollten auch nicht mehr hinter den Männern beten, man kann stattdessen die Moscheen in zwei nebeneinander liegende Teile unterteilen, rechts die Männer und links die Frauen oder umgekehrt. Man muss sich von allen sexistischen Argumenten verabschieden, in denen die Frau auf ein sexuelles Objekt reduziert wird, und daher soll sie angeblich hinter den Männern beten und darf nicht vor ihnen die Freitagspredigt halten, da diese sonst sexuell abgelenkt wären, wie allen Ernstes behauptet wird.

STANDARD: Welche Reformen würden Sie sich noch wünschen, um Frauen im Islam auch eine aktive Rolle, nicht nur als Betende oder Gläubige, zu ermöglichen?

Khorchide: Frauen sollten zumindest die Möglichkeit bekommen, in Moscheen vor Männern zu predigen und zu unterrichten. Weder im Koran noch in der prophetischen Tradition finden wir Belege, die den Frauen absprechen würden, als Imamin zu arbeiten, im Gegenteil, es gibt eine Reihe an anerkannten Gelehrten, die sich auf den Propheten selbst berufen, der eine Frau zur Imamin vor Männern gemacht hat.

STANDARD: Frau Akay-Türker fordert auch eine reformorientierte Interpretation des Koran und kritisiert, dass die IGGÖ nur "Stillstand bewahren" wolle, aber: "Das Koranbild der klassischen Lehre kann die Probleme der Frauen nicht lösen." Was wäre denn da zu tun?

Khorchide: Stellen im Koran, die die Männer für die Frauen verantwortlich sehen bzw. den Männern sogar erlauben, Frauen zu schlagen (Koran 4:34) oder den Männern das Doppelte am Erbe zusagen als den Frauen (Koran 4:11), müssen unbedingt in ihrem historischen Kontext gelesen und verortet werden, für uns heute gelten solche Regelungen keineswegs mehr. Das Thema interreligiöser und interkultureller Heirat muss auch dringend innerislamisch diskutiert werden. Bislang dürfen nur Männer nichtmuslimische Frauen heiraten, aber nicht umgekehrt, dabei steht nichts im Koran, was Frauen verbieten würde, einen Nichtmuslimen zu heiraten. Und gerade dieses Thema betrifft immer mehr junge Musliminnen.

STANDARD: Das in der Öffentlichkeit zumeist dominierende Thema ist das Kopftuch. Fatma Akay-Türker kritisiert auch, dass die IGGÖ glaube, "dass die muslimischen Frauen in Österreich nur das Kopftuchproblem haben, sonst nichts". Die IGGÖ spricht in dem Zusammenhang ja auch immer wieder von einem "innerislamischen" Thema. Ist es das?

Khorchide: Es gibt eine Reihe an Themen, die dringend innerislamisch diskutiert werden müssen, dazu gehören ein innerislamisches Verbot von Kinderkopftuch, das Recht der Frau auf Selbstbestimmung, wen sie heiraten will, egal welcher Religion oder Weltanschauung er angehört, was sie studieren will, was sie arbeiten will und so weiter. Auch die Relevanz des Kopftuchs für Frauen heute muss innerislamisch diskutiert werden. Zur Zeit des Propheten war das Kopftuch nur für freie Frauen vorgesehen, nicht jedoch für Sklavinnen, diese durften sogar das Kopftuch nicht tragen, es war also ein soziales Unterscheidungsmerkmal zwischen freien Frauen und Sklavinnen. Dies muss heute neu diskutiert werden. Und noch einmal, es reicht nicht, Imamekonferenzen zu organisieren, um nach außen zu vermitteln, alle würden moderne Ansichten vertreten. Man muss die Probleme vielmehr ansprechen, analysieren, nach neuen Positionen suchen, und zwar an einem Tisch, an dem Männer und Frauen gemeinsam und auf Augenhöhe sitzen und diskutieren.

STANDARD: Wie wichtig ist die Gremienarbeit für Frauen eben in der IGGÖ, die nun mal die von der Politik anerkannte Körperschaft öffentlichen Rechts ist, mit der sie religionspolitische Fragen diskutiert?

Khorchide: Immer mehr Frauen sollten sich in theologischen Fragen einbringen. In allen Gremien der IGGÖ sollte eine Frauenquote eingeführt werden.

STANDARD: Welche Höhe schwebt Ihnen vor oder ist realistisch im ersten Schritt?

Khorchide: Das Ziel sollte 50:50 sein, und das ist in meinen Augen jetzt schon realistisch, wenn die Männer dies wirklich wollten, denn es gibt genug sehr gut qualifizierte muslimische Frauen und viele Akademikerinnen in Österreich. (Lisa Nimmervoll, 16.6.2020)