"So sind wir nicht", hielt Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach Publikwerden des Ibiza-Videos fest. Umfragedaten widersprechen dem ein bisschen.
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Es gibt Länder, wo korruptes Verhalten nicht als akzeptabel gilt und auch selten wahrgenommen wird. Es gibt Länder, wo Korruption breit akzeptiert ist und als weit verbreitet wahrgenommen wird. Es gibt sogar Länder, wo Korruption verpönt ist, aber dennoch als allgegenwärtig gilt.

Und es gibt Länder wie Österreich.

Die Grafik unten zeigt Daten aus einer sehr lesenswerten Eurobarometer-Befragung zum Thema Korruption aus dem Jahr 2017. Beispielsweise wurde abgefragt, wie akzeptabel es ist, im Austausch für eine Behördenleistung dem betreffenden Beamten einen Gefallen zu tun, ein Geschenk zu machen oder sogar Geld zu zahlen. Österreich landet hier durchwegs im oberen Drittel der EU-Staaten: Zwischen 18 (Geld) und 28 (Geschenk) Prozent der Befragten hielten das jeweilige Verhalten für immer oder manchmal akzeptabel. Nicht weniger als ein Drittel (!) aller Befragten in Österreich findet zumindest eine dieser drei Verhaltensweisen fallweise in Ordnung.

Gleichzeitig ist das wahrgenommene Ausmaß an Korruption hierzulande niedriger als in 22 der (2017 noch) 28 EU-Staaten. Ganze 42 Prozent der österreichischen Befragten meinen, Korruption sei in Österreich selten oder nichtexistent.

Nun ließe sich einwenden, dass die Befragung im Herbst 2017 und somit eineinhalb Jahre vor der Veröffentlichung des Ibiza-Videos durchgeführt wurde. Und ja, wäre dieselbe Umfrage Ende Mai 2019 ins Feld gegangen, würden die Ergebnisse vielleicht anders ausschauen. Doch ist es ja nicht so, dass das Thema politische Korruption infolge des Ibiza-Videos in Österreich zum ersten Mal diskutiert worden wäre.

Eine gewisse kognitive Dissonanz in Teilen der Bevölkerung lässt sich also nur schwer leugnen: Immerhin zehn Prozent der Befragten halten es etwa für akzeptabel, Geschenke für Behördenleistungen zu machen, und geben gleichzeitig an, dass Korruption in Österreich selten beziehungsweise nichtexistent sei.

Wenn sich die öffentliche Meinung in Österreich also nicht dauerhaft in Richtung geringer Akzeptanz von korruptem oder zumindest höchst problematischem Verhalten entwickelt, dann wäre es zumindest die ehrlichere Variante, wenn wir unser Bild von der Verbreitung von Korruption in Österreich dem anpassen, was uns nicht zuletzt die Untersuchungsausschüsse der letzten Jahre in Permanenz vor Augen geführt haben.

Der Post-Ibiza-Diagnose des Bundespräsidenten ("So sind wir nicht") muss korrigierend beigefügt werden: ein bisschen vielleicht schon. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 12.6.2020)