Gut die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Wien haben nicht Deutsch als Muttersprache. Ob das viel über ihre Deutschkenntnisse oder gar Parallelgesellschaften aussagt, bezweifeln Experten.

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Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) fürchtet das Entstehen von Parallelgesellschaften. Anlass für diese in der "Kronen Zeitung" geäußerte Angst sind Zahlen des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), die besagen, dass in Wien der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Erstsprache bei 52,5 Prozent liegt. In Wien reagiert man entzürnt, auch Expertinnen äußern Kritik.

Bildungsstadtrat stolz auf die vielen Sprachen

Wiens Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorsky (SPÖ) liest aus den Zahlen das komplette Gegenteil heraus: Sprachen seien der Schlüssel zur Welt, sagt er gegenüber dem STANDARD, und: "Mehrsprachigkeit ist ein Schatz, eine Bereicherung für eine international vernetzte Stadt." Über die Deutschkenntnisse würden Zahlen zur Muttersprache ohnehin nichts aussagen.

Die Schlüsse, die die Ministerin gezogen habe, könne er sich nur auf zwei Arten erklären: "Entweder sie versteht die Statistik nicht, oder sie will bewusst Stimmung machen und das Bild erzeugen, Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache könnten kein Deutsch." Hinter den Aussagen liege außerdem "eine Einstellung, es gebe gute und schlechte Sprachen", das sei "dramatisch", so Czernohorsky. Was Wien angehe, so wolle man Mehrsprachigkeit weiter fördern, Ziel sei, dass jedes Kind in Wien drei Sprachen sprechen könne.

Mehrsprachigkeit als Asset

Ohnehin sei es schon seit langer Zeit so, dass mehr als die Hälfte der Wiener Schülerinnen und Schüler mehrsprachig seien, konstatiert Barbara Herzog-Punzenberger, Professorin am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Uni Innsbruck. "Ich wundere mich immer wieder, dass das eine Meldung wert ist." In ganz Österreich sind übrigens rund 25 Prozent der Schüler mehrsprachig.

Mehrsprachigkeit an sich sei "ein Asset", wie Herzog-Punzenberger im Gespräch mit dem STANDARD betont. Wie jedoch mit der Mehrsprachenkompetenz in der Schule und zu Hause umgegangen werde, davon sei abhängig, ob diese im Leben der Kinder auch von Vorteil werden könne.

Sprachsensibler Unterricht

Ganz konkret müsse man bei der Ausbildung von Pädagoginnen ansetzen, und das sei ein "langer, harter Kampf", den die Wissenschafterin seit Jahren führe. Es gebe jetzt den Versuch, "internationale Standards für sprachbewussten bzw. sprachsensiblen oder auch responsiven Unterricht in allen wirtschaftlich entwickelten Ländern einzuführen", so Herzog-Punzenberger. Das heiße ganz konkret: "Wie vermittle ich etwa Mathe oder Physik so, dass es alle verstehen, wie baue ich es entsprechend der individuellen Sprachenkompetenzen auf?", erklärt Herzog-Punzenberger. "Dafür muss ich wissen, wo die Schüler stehen, welche die häufigsten Sprachen in der Klasse sind."

Selbst in der "PädagogInnenbildung neu", also in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die in den letzten Jahren reformiert wurde, sind diese Kompetenzen nicht verpflichtend im Lehrplan verankert. Nur an der Uni Graz gibt es hier verpflichtende Lehrveranstaltungen im Ausmaß von vier Wochenstunden, allerdings erst im Masterstudium – sonst gibt es nur Wahlfächer, die die Studierenden nicht belegen müssen.

Aktuell kämpfe sie bei der Überarbeitung des Curriculums darum, dass diese Inhalte schon im Bachelorstudium verpflichtend werden, wobei sie durchaus auch Unterstützung finden würde, allerdings noch nicht genug. Von Ministerin Raab, die schon mehrere Jahre in diesem Feld tätig war, erwarte die Universitätsprofessorin, dass sie "die Befunde kennen sollte".

Wundern kann sich Herzog-Punzenberger ebenso darüber, dass man das auch nach 50 Jahren Einwanderung immer wieder rechtfertigen müsse: "Das ist ein Faszinosum, dass es da so viel Gegenwind gibt."

"Sprachbad" für Schüler

Im Interview mit der "Kronen Zeitung" verteidigt Raab außerdem die vielkritisierten Deutschklassen – dass in denen tausende Kinder sitzen, sei der Beleg dafür, dass in den Schulen nicht gut genug Deutsch gesprochen werde, so die Ministerin. Eine vehemente und prominente Gegnerin dieser Deutschklassen ist Ilse Rollett, Direktorin der Wiener AHS Rahlgasse. Kinder, die Deutsch nicht als Erstsprache hätten, bräuchten das "Sprachbad", sagt sie, sie müssten von Anfang an mit anderen Kindern in allen Fächern lernen.

Rollett geriet schon 2018 in die Schlagzeilen, nachdem sie in der Rahlgasse hochrangigen Besuch aus dem Bildungsministerium bekam, nachdem sie sich öffentlich gegen Deutschförderklassen gestellt hatte.

In der Rahlgasse liege der Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache etwa bei einem Drittel, sagt Rollett, dank bildungsnaher Eltern sei dies also niedriger als im Wien-Schnitt. Über deren Deutschkenntnisse sage das jedoch gar nichts aus, sagt Rollett: "Es kommt viel mehr darauf an, wie bildungsnah die Eltern sind, welche Rolle Bildung spielt und wie die Kinder gefördert werden."

Parallelgesellschaften fürchtet sie – zumindest an ihrer Schule – nicht. "Und wenn, dann ist da die Schule nur ein Teil davon", das sei vielmehr ein sozialpolitisches Problem.

Ministerin bleibt dabei

Auf STANDARD-Nachfrage bleibt Ministerin Raab bei ihrer Kritik: Der Anteil der SchülerInnen mit nichtdeutscher Umgangssprache sei in Österreich im EU-Vergleich überproportional hoch, und das vor allem in Wien. Deutsch sei der Schlüssel für Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, so Raab: "Mehrsprachigkeit ist selbstverständlich eine Bereicherung, aber wenn Deutsch nicht gut gesprochen wird, ist es eine Hürde für die Integration." (Gabriele Scherndl, Colette Schmidt, 12.6.2020)