Im Gastkommentar erklärt der Historiker Oliver Rathkolb, dass die architektonische Umgestaltung des Hitler-Geburtshauses nicht die zeithistorische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Holocaust unterbindet.

Seit 2016 gibt es auf der Homepage des Innenministeriums den Abschlussbericht mit Empfehlungen einer "Kommission zum historisch korrekten Umgang mit dem Geburtshaus Adolf Hitlers", ohne dass sich jemand – außer einigen wenigen Historikerinnen und Historikern – damit beschäftigt hat. Uns ging es und geht es auch heute um eine tiefgreifende architektonische Umgestaltung, die den "Wiedererkennungswert und die Symbolkraft des Gebäudes dauerhaft unterbinden soll", und eine administrative oder soziale Nutzung.

Das Architektenbüro Marte.Marte soll das Hitler-Geburtshaus in Braunau umgestalten. Das Vorhaben des Innenressorts stößt auf Kritik.
Foto: Marte.Marte Architekten

Ziel dieser architektonischen Intervention sollte es sein, eine Entmystifizierung dieses Gebäudes zu erreichen, das in fast religiöser Art und Weise seit den 1950er-Jahren immer wieder zu einer Art Pilgerstätte von Neonazis und zunehmend auch von internationalen Rechtsextremen und ihrem Umfeld geworden ist. Dabei spielte es keine Rolle, dass die Eltern Hitlers und er selbst als Kleinkind nur wenige Monate in diesem Haus gelebt haben und drei Jahre nach seiner Geburt von Braunau nach Linz gezogen sind. Seit 1972 versuchte das Innenministerium durch Anmietung des "Hitler-Geburtshauses" für Institutionen mit karitativen oder sozialen Zwecken diesen fast religiösen Erinnerungsort für Adolf Hitler zu brechen und die Neonazi-Pilgerfahrten zu unterbinden. Diese Maßnahme funktionierte ebenso wenig wie der Versuch einer engagierten Braunauer Initiative 1989 durch einen Gedenkstein aus dem Steinbruch des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen, die "Erinnerungsfotos" vor diesem Gebäude zu verhindern, weil dann auch der Gedenkstein im Bild sein konnte. Nicht nur manche Braunauer halten aber den Gedenkstein für einen Marker für Adolf Hitler und sein Geburtshaus!

Irrationale Anziehungskraft

Geburtshäuser von Diktatoren – sei es jenes von Benito Mussolini in Predappio, wo sich seit 1957 auch seine sterblichen Überreste befinden, oder jenes von Josef Stalin in Gori in Georgien – sind nur einige der vielen Beispiele, die die Anziehungskraft für Geburtshäuser für "dark tourism" belegen. Geburtshäuser von Diktatoren sind von einer irrationalen Aura der scheinbaren Authentizität umgeben, die ihre Anziehungskraft ausmacht. Selbst in Gori, wo ursprünglich ein Museum für die Millionen Opfer Stalins und dann auch für die die russische Aggression gegen Georgien entstehen sollte, blüht heute der "Pilger-Tourismus" von Stalin-Fans.

Im Falle des Geburtshauses von Hitler sollte diese irrationale Anziehungskraft für rechtsextremen "Tourismus", der nach Erinnerungsorten für den Nationalsozialismus und vor allem die Figur des Diktators Hitlers sucht, durch die Verfremdung der historischen Architektur gebrochen werden. Dieses strategische Vorhaben konnte erst nach der Enteignung des Gebäudes langsam begonnen werden. Dass mit der eben durch eine Fachjury ausgewählten architektonischen Intervention die zeithistorische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Holocaust unterbunden werden sollte, ist schlicht und einfach nicht richtig. Ein Blick in den Expertenbericht 2016 und die nachfolgende Debatte um den Abrissvorschlag des damaligen Innenministers Wolfgang Sobotka zeigen dies deutlich. Clemens Jabloner und ich haben als ehemalige Kommissionsmitglieder energisch dagegen protestiert.

Eine Pilgerstätte

Auch eine museale oder edukative Nutzung des Ortes, wie von manchen seit Jahren gefordert, stützt letztlich – trotz positiver Absichten zur antifaschistischen demokratischen politischen Bildung – unbewusst den Geburtshausmythos und bricht sicherlich nicht den rechtsextremen Kultstatus.

Selbst ungarische Rechtsextreme wie das Skinhead-Netzwerk "Blood and Honour" 2015 oder die rechtsradikalen russischen "Nachtwölfe" haben das Geburtshaus Hitlers auf Europatouren bereits als Pilgerstätte in ihren Reiseplanungen entdeckt. Für deutsche und österreichische Rechtsradikale hatte und hat das Geburtshaus durchaus eine starke Anziehungskraft.

Für den Gedenkstein vor dem Haus Salzburger Vorstadt 15 könnte eine bessere Lösung durch Verlagerung an einen zentralen Ort in Braunau selbst gefunden werden. Denn der Text entspricht zwar dem damaligen Stand der Debatte um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim und dem Umgang mit Antisemitismus und Nationalsozialismus, aber er enthält überhaupt keinen einzigen Bezug zur politischen Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft: "Für Frieden, Freiheit und Demokratie – Nie wieder Faschismus – Millionen Tote mahnen".

Täter oder Mittäter

Viele Menschen in Deutschland, Österreich und Europa waren nicht Opfer, sondern Täter oder Mittäter. Auch diese Botschaft wird in der rezenten Diskussion gerne übersehen. Wie eine soziologische Diplomarbeit an der Universität Wien aus 2012 von Judith Forster aufgrund von Befragungen zeigt, ist die Braunauer Bevölkerung zwar gespalten, was das "Hitler-Erbe" betrifft, aber durchaus bereit für eine generelle kritische Aufarbeitung der NS-Geschichte. Diese Bereitschaft zur eigenen Geschichtsreflexion müsste aber in Braunau selbst, wo es bereits lange engagierte Initiativen zur kritischen Erinnerungsarbeit mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust gibt, anhand der Reflexion der Jahre 1938–1945 an einem eigenen zentralen Ort um den versetzen Gedenkstein gesetzt werden – dazu gehört die Debatte um das Geburtshaus Hitlers seit 1938 bis heute, aber noch wesentlich mehr. (Oliver Rathkolb, 13.6.2020)