Zwei dunkle Monate lang konnten wir nur sehnsüchtig hineinschauen – jetzt endlich auch wieder vorbeischauen, um uns anschauen zu lassen.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Es ist nicht ganz so, wie es gewesen ist. Zu viele Babyelefanten drängen sich noch. Keiner – das ist bei Elefanten im Raum halt so Brauch – redet darüber. Aber alle halten doch, soweit es geht, Abstand. Selbst der, den die EAV so trefflich als Fredl besungen hat – "I sitz in an Beisl, da kummt da Fredl ..." –, versucht es zumindest. Ehe ihn der innere Drang, beim Reden auf den Ellbogen des Angeredeten zu klopfen, dann doch überwältigt. Und der Fredl – "er palavert und rhababert" – redet überwältigend viel.

Die Sitzer sitzen, soweit es geht, auseinander. Die Budelsteher stehen, wenn überhaupt, locker. Und die Wirtin läuft maskiert herum, dass es beinahe eine Schande ist. Oder ein Spaß. Stammlokalitäten neigen dazu, Spaß, wenn schon nicht zu haben, so doch zu machen.

Nein, noch ist es nicht ganz so, wie es zuvor gewesen ist. Aber es wird. Da sind alle voller Zuversicht. Jetzt, da die Wirtin eine so prächtige Markise hat montieren lassen, auf dass die paar hinausgestellten Tischerln sich beinahe zu einem echten Schanigarten auswachsen mögen, sollte diesbezüglich nichts mehr passieren. Der Sommer könnte kommen. Ein ganz, ganz normaler Sommer.

Die zarte Zeit

Wir haben einander vermisst. Ich alle. Und alle, so meine stille Hoffnung, mich auch ein bisserl. Ein paar Tage lang hat ein jeder die anderen dies jedenfalls mit erstaunlichem Zartgefühl tatsächlich auch wissen lassen, ehe das coole Männergetue es wieder zugetüncht hat. Der Jakob, der Hofrat, der Rudi. Der Architekt, den sie neckend auch gerne Bausünder nennen.

Der, zu dem sie aus Gründen, die hier auszuführen zu weit führen würden, Präsi sagen. Die, die aus dem Journalismus ins politische Fach gewechselt ist, weil sie ja auch dort welche brauchen, die nicht allzu mundfaul sind. Der Fußballervater, der so heißspornig stolz sein kann auf seinen Buben; jetzt, da der angefangen hat, sich in der Bundesliga zu mausern, erst recht. Der Winzer und die Winzerin, die nicht nur liefern, sondern sich auch hinsetzen zum Schmähführen.

Und natürlich die Wirtin, die aus dem Lokal mit der einstigen Anmutung einer Kaschemme mit Zauberhand ein kleines Juwel gemacht hat. Mit einer Weinkarte, die jedem Wiener Innenstadtlokal Ehre machen würde. Denn ja: Wir sind im Burgenland, in der Hauptstadt gar. Und wenn sie auch sonst nichts zusammenbrächten, die Burgenländer: Weinmachen können sie. (Als Burgenländer sei mir erlaubt hinzuzufügen: und wie!)

Gegen das Ritual verstoßen

Wo genau dieses schöne, kleine Lokal liegt, sei verschwiegen aus purem Eigennutz. Stammlokale sind eher Geheimtipps, deren Geheimnisse für gewöhnlich eifersüchtig gehütet werden. Wer weiß, weiß eh. Wer hinfindet, ist willkommen. Aber extra Werbung macht niemand.

Selbst die Wirtin braucht das nicht tun. Sie hat ja uns. Mehr noch: Sie braucht uns. Und wir sie. Und jetzt erst recht, da wir den Betrag, den wir zuvor noch schnöd als Zeche bezeichnet haben, nun füglich eine Wirtschaftsförderung nennen dürfen. Ja müssen. Die vollmundige Regierung ziert sich ja wortreich, ihr Wort einzulösen.

Der Fliesenleger, der Tischler, der Elektriker, der so bluesig musizierende Anzeigenakquisiteur. Nach und nach sind sie alle wieder aufgetaucht. Haben, wie zuvor, vorbeigeschaut. Haben sich, wie man sagt, anschauen lassen. Einer der schönsten Aspekte eines Stammlokals ist ja der Umstand, dass einen wer vermisst.

Man wird, war man eine Zeitlang nicht dort, nicht bloß gefragt: "Wo bist denn g’wesen?", sondern gleich: "Was war denn los?" Denn man hat durchs Nichterscheinen gegen das Ritual verstoßen. Und sie haben sich Sorgen gemacht. Oder sich gefragt, ob einen jemand beleidigt habe. Es gibt ja auch nachtragende Stammgäste, deren Infantilität hinreicht, sich diesbezüglich ins eigene Fleisch zu schneiden.

Die dunkle Zeit

Jetzt haben alle gefragt, wie es denn gewesen ist, so ganz allein daheim. Ohne all die anderen? Du ohne uns? Ihr ohne mich? Natürlich ist man keine Familie bei der Wirtin. Aber doch etwas dazu Verwandtes. Jeder kennt die Schrullen der anderen, kann Gesichtsausdrücke deuten, ja sogar unterschiedliche Gangarten als Gemütszustände interpretieren. Die dunkle, die wirtinnenlose Zeit, ist einem jeden so in die Knochen gefahren, dass keiner die Freude verbergen konnte übers Wiedersehen. Aber manche fehlen. Noch, wie alle hoffen.

Der Galerist, der das Lokal regelmäßig mit seinen Bildern schmückt – vor Corona hat er zum Beispiel zwei schöne Arnulf Rainer an die Stirnseite gehängt – war noch nicht da. Sein Stammplatz am Ende der Budel, von wo aus er schmähführte mit dem Rudi, ist leer. Keiner weiß, was los ist. Jeder also macht sich, wenn schon keine Sorgen, so doch Gedanken. Auch der Altherrentisch ist schütterer besetzt als zuvor, als er an manchen Tagen zu klein geworden ist, obwohl er der größte im Lokal ist und daher Stammtisch. Viele sind – wie ich selber ja auch – Risikogruppler.

Aber Risikiogruppler oder nicht: Niemanden hat es mehr daheim gehalten. Am ersten Tag der Öffnung – zwei Monate nach dem Zusperren, es war der denkwürdige 15. Mai, ein warmer Freitag – haben sie sich fast gedrängt. Mit Maske, ja. Aber notgedrungen fast ohne Elefanten. Dann ist es wieder ruhiger geworden. Eingespielter. Routinierter, wenn man will. Der Wirtin ist das, wie man sich denken kann, eher nicht so recht.

Weniger Leute

Immer noch sind im Vergleich zu früher weniger Leute da. Allmählich aber – so der von uns allen geteilte Eindruck – renkt sich’s ein. Die Leute fangen an, unbefangener zusammenzusitzen, zusammenzustehen. Aber wir proben noch. Keiner will jetzt eine neue Normalität.

Der Bluessänger sagt das so: "Wir wollen das normale Normal." Ob das gut ist oder eher doch nicht, weiß wahrscheinlich nicht einmal der Gesundheitsminister, den es andererseits aber wohl auch an die normale Normalität seines Stammtisches zieht, draußen im Oberösterreichischen.

Bei uns drinnen hat praktisch keiner eine Maske auf, nur, verordnungsgemäß, die Wirtin. Die hat – sagt sie selber – eine Art Putzfimmel und schon vor Corona die Tischplatten poliert, wenn immer sich die Gelegenheit dazu geboten hat. Die Stammgäste haben, immerhin, einen Waschzwang mitgenommen aus der Coronazeit. Selbst Männer – sagt die Wirtin, die das erfreut am Seifen- und Papierhandtuchverbrauch abliest – waschen sich nach dem Toilettgang nun die Hände. Mag sein, das hält sogar noch eine Weile an. Oder auch nicht. Wir wollen, Corona zum Trotz, nicht unrealistisch werden.

Das schöne, kleine Lokal, das mir mit seiner Wirtin und seinen Inwohnern und Inwohnerinnen gewissermaßen ans Herz gewachsen ist, verwandelt sich ab und zu in einen Arbeitsplatz. Einen Laptop zum Schreiben, ein Handy zum Knechten: Was braucht ein Schreibknecht mehr? Ein paar Gerüchte vielleicht. Tratsch. Woanders nennt man das dann möglicherweise Hintergrundrecherche. Ich warte, bis wer vorbeikommt und mir was erzählt. Das ist was Ähnliches. Nur entspannter.

Die goldene Zeit

"Was schreibst denn?", fragt der Jakob. "Ich darf eine Geschichte schreiben über die Rückkehr ins Stammlokal nach dem Scheiß-Corona", erwidere ich. Das hören der Hofrat und der Präsi und der Rudi, der immer wieder gerne ins Altphilologische abschweift und jetzt hexametrierend meint: "Schreib’s so: Aurea prima sata est aetas und so weiter, du weißt schon." Ein guter Anfang, ja: Die Zeit war einmal eine goldene, dann aber ...

Doch die, die aus dem Journalismus hinüber ins politische Fach gewechselt ist, sagt: "Fang’ so an: Es ist nicht ganz so, wie es gewesen ist. Zu viele Babyelefanten drängen sich noch." Das hört die Wirtin und ergänzt: "Nein, noch ist es wirklich nicht ganz so, wie es zuvor gewesen ist. Aber es wird."

In der Tat. Denn dann kommt schon der Fredl. (Wolfgang Weisgram, 13.6.2020)