Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) zeigt sich im STANDARD-Interview mit der bisherigen Bewältigung der Corona-Krise zufrieden. Trotzdem übt er deutliche Kritik an den Spielregeln des Bundes: So sei es unverständlich, warum eine Gruppe von Bekannten in ein Lokal gehen, "aber nicht gemeinsam Volleyball spielen darf". Es spreche nichts dagegen, 10.000 Leute ins 50.000 Sitzplätze fassende Happel-Stadion zu lassen, wenn Abstände eingehalten würden. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wirft er vor, keine Testzahlen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen veröffentlicht zu haben. Ab Juli rechnet Hacker mit einem Anstieg der Covid-19-Fälle. Man sei aber darauf vorbereitet.

STANDARD: Im Vergleich mit anderen Millionenmetropolen hat Wien die erste Welle an Covid-19-Erkrankungen gut überstanden. Sind Sie der Bundesregierung für die strikten und raschen Maßnahmen dankbar?

Hacker: Dankbar ist das falsche Wort. Wir haben sie mitgetragen, und dazu stehe ich nach wie vor. Wir waren uns rasch einig, dass es Sinn macht, österreichweit einheitliche Maßnahmen zu setzen. Wir haben das als ganzes Land exzellent gemacht.

STANDARD: Was hat in Wien gut funktioniert, wo gibt es Verbesserungsbedarf?

Hacker: Wir waren schon im Jänner davon überzeugt, dass das Virus nicht an uns vorbeiziehen wird, und haben unseren Krisenstab eingerichtet und begonnen, Schutzausrüstung zu kaufen. Wir haben uns überlegt, welche Maßnahmen Sinn machen und welche Wirkung sie erzielen. Italien hat uns aufgrund der besseren Vergleichbarkeit mehr beschäftigt als China. Die Kernprobleme dort waren laut Berichten die Arbeitsbedingungen von Arbeitern aus der chinesischen Community und der Impact ins Gesundheitssystem, weil alle mit Symptomen unkontrolliert ins Spital gerannt sind. Im Krisenstab haben wir diskutiert: Wie können wir verhindern, dass Leute zu praktischen Ärzten und ins Spital rennen? Das war Basis für die Entscheidung, 1450 ins Zentrum zu schalten und die Leute zu Hause zu testen. Das hat funktioniert. Weil wir nicht wussten, welche Wirkung wir damit erzielen, haben wir auch die Messe Wien als Notquartier aufgebaut. Es war einiges an Überzeugungsbedarf nötig, hier 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt zu bekommen.

Die Diskussion über ein Nationalstadion in Wien ist vorerst abgeschlossen, sagt Peter Hacker, der auch Sportstadtrat ist: "Im Augenblick ist das eine Utopie."
Robert Newald

STANDARD: Zum Status quo: 70 Prozent aller aktuell an Corona Erkrankten in Österreich befinden sich in Wien. Der Großteil der täglichen Neuerkrankungen wird – auf niedrigem Niveau – seit Wochen in Wien registriert. Welche Gegenmaßnahmen gibt es?

Hacker: Die Aussage im Dashboard des Gesundheitsministeriums, dass es sich um "aktuell Erkrankte" handelt, ist falsch. Es sind nur die, die wir gerade im Test als positiv auf die Existenz eines Covid-19-Virus in Schleimhäuten entdeckt haben. Jemand, der positiv getestet und symptomfrei ist, ist aber nicht erkrankt. Wir wissen nichts darüber, ob diese infektiös sind. Sie könnten sich auch schon vor langer Zeit infiziert haben, die Krankheit hinter sich haben und kein Krankheitsbild entwickelt haben. Darüber kann der PCR-Test keine Aussage treffen.

STANDARD: Bei diesen neu positiv Getesten ist Wien aber sehr weit vorne. Ein Problem?

Hacker: Nein, überhaupt nicht. Die Möglichkeit, sich da draußen anzustecken, ist gering. Aber das heißt nicht, dass wir nichts machen. Wir müssen noch gezielter hinschauen, um die Entstehung von Clustern früh zu entdecken. Wir testen so viel wie kein anderes Bundesland. Das sage ich nicht vorwurfsvoll. Aber der Nebeneffekt ist, dass die Statistik nicht so hübsch ist. Aber ehrlich gesagt: Das ist mir wurscht.

STANDARD: Muss Wien also weiter mit täglich neu positiv Getesteten leben lernen?

Hacker: Ganz Österreich muss damit leben lernen. Beim Cluster rund um das Post-Verteilerzentrum hat es bei rund 300 Positiven höchstens fünf gegeben, die bei uns aufgrund von Symptomen angerufen hätten. Es gibt auch Menschen, die sich vor einer behördlichen Erkennung ihrer Erkrankung fürchten. Wir wollen es aber wissen.

"Die Möglichkeit, sich da draußen anzustecken, ist gering", sagt Hacker.
Robert Newald

STANDARD: Bei der "Black Lives Matter"-Demo gingen zuletzt 50.000 Menschen auf engem Raum in Wien auf die Straße. Hat man die Situation unterschätzt?

Hacker: Ich halte es für gescheit, dass es keine Situation geben darf, wo die grundsätzlichen Freiheitsrechte in unserem Land eingeschränkt werden. Auch Covid-19 darf nicht dazu führen. Wir sollten die Aufgabe der Polizei im Vollzug des Versammlungsrechtes unterstützender definieren. Sie soll beraten, wie der Zustrom stattfinden kann oder ob man nicht besser an einen anderen Ort gehen soll. Das ist an sich eine Kompetenz, die die Polizei nicht hat. Es war beeindruckend, wie viele Leute eine Maske getragen haben, obwohl es gar nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Veranstalter haben dazu aufgerufen, eine große Gruppe hat sich daran gehalten. Die Aufregung ist unnotwendig. Sensationell fand ich auch das Verhalten der Wiener Polizei.

STANDARD: Werden die Erkrankungszahlen aufgrund der Demo steigen?

Hacker: Ob die Zahlen steigen, weil 50.000 gemeinsam demonstrierten oder diese 50.000 in Lokalen, in der Schule oder auf der Mariahilfer Straße waren, macht für das Virus keinen Unterschied. Wir können darauf vertrauen, dass die Menschen verstanden haben, dass das Virus ernst ist. Und dass man selbst mit Abstand und Maske viel dazu beitragen kann, dass andere nicht krank werden. Bei der Demo war viel Vernunft zu sehen. Noch dazu hat es davor geregnet. Das Böseste, das man einem Virus, das sich über Tröpfchen verbreitet, antun kann, ist, dass es regnet.

STANDARD: Mit dieser Argumentation könnte man jetzt auch Großveranstaltungen wie Sportevents und Konzerte wieder im Happel-Stadion abhalten.

Hacker: Im Wesentlichen: Ja. Aber unter den richtigen Voraussetzungen. Wenn im Praterstadion, das 50.000 Sitzplätze hat, 10.000 Leute drin sind, hat keiner einen Nachbarn oder jemanden vor, hinter oder neben sich sitzen. 10.000 Leute im Stadion sind da kein Problem. Gleichzeitig fallen mir genug kleine Lokale in Wien ein, wo 100 Leute schon zu viel sind. Die Zahl der Besucher muss in Relation zur Location gesehen werden. Als ich gelesen habe, dass es bei Versammlungen wie Demos keine Regeln gibt: Wie wollen wir den Menschen erklären, dass ins Stadion nur 500 Leute rein dürften? Da ist der Bund aufgerufen, die Spielregeln verständlich zu machen. Viele Regelungen sind zueinander unlogisch: Keiner versteht, dass man mit den besten Haberern auf engem Raum ins Lokal gehen kann, aber nicht gemeinsam Volleyball spielen darf.

Hacker fragt sich, warum "man mit den besten Haberern auf engem Raum ins Lokal gehen kann, aber nicht gemeinsam Volleyball spielen darf".
Robert Newald

STANDARD: Der Streit zwischen dem Bund und der Stadt Wien hat sich am Streit um die Sperre der Bundesgärten oder der Kontrolle von Erkrankten in Quarantäne durch die Polizei entzündet. Innenminister Karl Nehammer und Sie lieferten sich einen harten Schlagabtausch. Seit zwei Wochen ist es völlig ruhig. Was ist passiert?

Hacker: Vielleicht, weil ich dem Innenminister ein paar Fragen gestellt habe, die er bis heute nicht beantwortet hat. Das Flüchtlingslager Traiskirchen des Bundes ist etwa sechs Wochen geschlossen in Quarantäne gewesen. Die Frage ist, ob zum Höhepunkt der Epidemie alle Leute dort getestet worden sind. Das ist meines Wissens nach nicht passiert. Es muss ein ordentlicher Impact in Traiskirchen gewesen sein. Es gab eine Person, die dort verstorben ist. Ich werfe Nehammer das nicht vor. Aber sich hinzustellen und zu sagen, er braucht einen Wellenbrecher um Wien: Das ist absurd.

STANDARD: In fünf Bundesländern gibt es aktuell keine zehn aktiv Erkrankten mehr. Wieso soll es in diesen die gleichen Beschränkungen wie in Wien geben? Der Bund will bei Bedarf regional schärfere Regeln ermöglichen.

Hacker: Erstens kann der Bund das nicht entscheiden. Das muss das Bundesland selber machen. Wien hat 250.000 Pendler. Und dem Virus sind die Bundeslandgrenzen wurscht. Es wird in allen Bundesländern wieder positive Fälle geben.

STANDARD: Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie nach den Grenzöffnungen und der Reisefreiheit ab 16. Juni?

Hacker: Es wird auf jeden Fall wieder mehr Erkrankte in Österreich geben. Wir stecken noch mitten in der Pandemie. Wir sind jetzt in einer Phase, wo es wenig Fälle gibt, weil wir den Shutdown gehabt haben. Das gute Ergebnis haben wir zu einem verdammt hohen Preis teuer erkauft. Es wird zu Diskussionen kommen, ob wirklich jedes Ergebnis einen so hohen Preis wert ist. Die Hälfte der Beschäftigten im nichtöffentlichen Sektor ist im Augenblick ohne Arbeit. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind ein Drama.

"Wir sind jetzt in einer Phase, wo es wenig Fälle gibt, weil wir den Shutdown gehabt haben", sagt Hacker.
Robert Newald

STANDARD: Ab Herbst kommt zu Corona auch wieder die Grippezeit dazu. Mit welchen Rahmenbedingungen rechnen Sie im Oktober, zum Zeitpunkt der Wien-Wahl?

Hacker: Die europäische Beobachtungsstelle rechnet schon im Juli wieder mit einem Anstieg von Corona-Fällen in Europa. Sie zeichnen dieses Szenario ziemlich stark, allerdings mit einer riesigen Bandbreite: von einer Situation, wie wir sie jetzt haben, bis zu einer Situation wie im März. Damals hatten wir 200 Corona-Patienten gleichzeitig in Wiener Spitäler. Damit wären wir weit weg vom Anschlag, müssten aber wieder verschiebbare Operationen reduzieren, um Betten freizuspielen. Ein Notquartier wie die Messe Wien brauchen wir nicht mehr.

STANDARD: Sie rechnen also mit einem Anstieg, einer zweiten Welle?

Hacker: Ja. Aber ich fange mit dem Wort Welle nichts an. Es wird uns nichts überrollen. Wir sind in die Steuerungsfähigkeit gekommen, können die Epidemie wirklich stark mit gezielten Regeln beeinflussen. Wir machen mit großer Überzeugung die Contact-Tracing-Strategie, wo wir jetzt schon viel besser darin sind, Fälle zu finden. Wir hatten vor ein paar Tagen 42 Fälle in 24 Stunden. Von diesen waren nur neun mit Symptomen. Wir sind konstant bei 2.000 Tests am Tag. Die Gesamtzahl österreichweit wird aber weniger. Wenn sich das Virus wieder mehr verbreitet, ist das aber die entscheidende Strategie, weil wir dann bereits wissen, wo wir am ehesten suchen müssen und wie wir dann reagieren müssen.

Hacker zufolge ist Wien bei "konstant bei 2.000 Tests am Tag".
Robert Newald

STANDARD: Vor Corona wurde auch die Möglichkeit eines neuen Nationalstadions in Wien intensiv diskutiert. Ist diese Frage obsolet geworden?

Hacker: Für mich ist es das jetzt schon. Es ist gerade für viele die geringste Sorge, ein neues Stadion um Hunderte Millionen Euro zu bauen. Wenn wir wirklich Investitionsmittel bekommen und zusätzliches Budget zur Verfügung haben, will ich das in den Breitensport investieren. Ich war bereits mit dem Präsidenten des ÖFB in sehr gescheiten Diskussionen. Auch der ÖFB hat jetzt andere Schwerpunkte als das Stadion.

STANDARD: Ist ein neues Nationalstadion in Wien also gegessen?

Hacker: Ja. Ich will nicht sagen, dass das für immer tot ist. Aber es ist in der Must-be-Skala für alle Beteiligten ganz weit nach hinten gerückt. Im Augenblick ist das eine Utopie. (David Krutzler, Fritz Neumann, 12.6.2020)