In der kulturellen, intellektuellen und ebenso ökonomischen Schaltzentrale Österreichs Wien steht eine elementare Richtungsentscheidung im Herbst an. Diese könnte einen qualitativen Umschwung für die politische Großwetterlage in ganz Österreich bedeuten, selbst wenn das auf den ersten Blick nicht so scheint. Die große Frage ist ob der türkise Siegeszug weiter geht oder kann die SPÖ einen Achtungserfolg mit positiven Auswirkungen für die Bundespartei erzielen? Eines scheint mit Bezug auf die Wien-Wahl relativ festzustehen - die FPÖ ist den Sozialdemokraten - so wie es aktuell aussieht - als Reibebaum und Kontrahent beim Kampf um Wien abhandengekommen. Ihr einstiger Alpha-Mann Heinz-Christian Strache hat auf der schönen Insel Ibiza etwas zu viel an Testosteron versprüht und dadurch seine Partei vom einstigen Aufstieg zu einem nicht so angenehmen Tiefstand geführt. Fast könnte man als Metapher wie beim Mensch ärgere Dich nicht "zurück an den Start" sagen. Im Gegensatz dazu wird der Österreichischen Volkspartei eine sagenhafte Verdoppelung der Stimmen prophezeit. Die Grünen dürften so wie die Neos mit leichten Zugewinnen rechnen. Ist somit für den Titelverteidiger Michael Ludwig von der historischen Wien-Partei SPÖ mit vorhergesagten ungefähr 38 Prozent die Wahl schon gelaufen?

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Die Unbekannten in der Formel zum Wiener Bürgermeister

ÖVP: Wie stark wird die ÖVP wirklich? Hat der seriös und bieder wirkende Finanzminister Gernot Blümel die Strahlkraft für eine mehr als Verdoppelung der Stimmen der ÖVP? Oder wird die Partei zu hoch gehandelt?

FPÖ: Wie stark können die Freiheitlichen in Wien mit Hilfe der Burschenschaften in einer "jetzt erst Recht" Stimmung mobilisieren oder sind sie durch das Antreten von ihrem einstigen Parteichef Strache demoralisiert?

Team HC Strache: Schafft der einstige FPÖ-Chef mit seinen treuesten Anhängern einen Achtungserfolg? Könnte sogar ein “blau-blaues“ Wunder geschehen und Strache schafft wie einst Peter Pilz den Einzug in den Wiener Gemeinderat, während seine ehemalige Heimatpartei diesen verfehlt? An sich unwahrscheinlich, aber wer hätte mit dem Ausscheiden der Grünen aus dem Nationalrat bei der Nationalratswahl 2017 gerechnet?

Die Grünen: Bleiben die Grünen stabil und stehen somit der SPÖ als Koalitionspartner weiter zur Verfügung oder sind viele Grünwähler durch die Perfomance ihrer Partei auf Bundesebene desillusioniert? Wie stark kann die neue Grünenchefin und ehemalige Sozialarbeiterin Birgit Hebein bezüglich der Sympathiewerte bei den Wienerinnen und Wienern punkten?

Neos: Können die NEOS durch die Stimmenreduktion aus dem dritten Lager sowie möglicher doch nicht so großer prophezeiter Zugewinne bei der ÖVP aber auch bei den Grünen profitieren oder stagniert die pinke Bewegung?

SPÖ: Ludwig ist sicher nicht der schulterklopfende Stammtischpolitiker. Seinen akademischen Hintergrund kann der studierte Politikwissenschafter trotz aller Bemühungen um Bodenständigkeit nicht verstecken. Das ist nicht schlimm, wenn man zu seiner intellektuellen Identität steht. Im Kontrast zu vielen anderen Spitzenpolitikern hat der Bürgermeister eines richtig gemacht: Er hat in seinem Team für Wien starke eigenständige Persönlichkeiten wie Stadtrat Peter Hacker oder Peter Hanke zugelassen, die über eigenständige Profile mit der nötigen Strahlkraft verfügen. Dies ist nicht bei vielen Politikern der Fall, denn sieht man sich als Beispiel den Bundeskanzler an, merkt man schnell, dass keine Kandidaten im Blickfeld sind, die eine wirkliche Konkurrenz darstellen könnten. Das ist auf lange Sicht höchst problematisch für jede Partei. Man blicke nur auf die Lage der SPÖ auf Bundesebene und ebenso auf die Situation der bereits beschriebenen Freiheitlichen, die sich schwer tun wieder auf die Überholspur zu gelangen. Mit alten Rezepten wird das sicher weder der SPÖ noch der FPÖ im Bund gelingen.

Nichts im Weg

So wie es heute aussieht scheint dem Wahlsieg der SPÖ nicht viel im Weg zu stehen. Das Dilemma der Sozialdemokraten liegt in der fehlende Gefahr und dem fehlenden Feind von außen. Sollte die Mobilisierung zu schwach ausfallen und der wichtige Wert von um die 40 Prozent stärker als gedacht unterschritten werden, könnte diese Tatsache allerdings doch zum ernsten Problem für die Sozialdemokratie werden. Aus heutiger Sicht unwahrscheinlich, aber wie formulierte es der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski so schön "Der Teufel schläft nicht". (Daniel Witzeling, 17.6.2020)

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