Gerade einmal ein Viertel erfüllt die WHO-Empfehlungen zur körperlichen Aktivität.

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Im Gastkommentar ruft Markus Redl dazu auf, eine breite Debatte darüber zu führen, wie wir zu einer Kultur des Ein-Leben-lang-in-Bewegung-Seins und Sporttreibens kommen.

In einer Pressekonferenz erklärte Bildungsminister Heinz Faßmann kürzlich, dass er es besser weiß als all die Sportfunktionäre und auch die Lehrerinnen und Lehrer, die ihn von der Wiederaufnahme des Unterrichtsfaches "Bewegung und Sport" unter Einhaltung der geltenden Verhaltensregeln überzeugen wollten. Aus eigener Erfahrung sei ihm klar, Abstandhalten ist bei der Ausübung von Sportarten wie Basketball nicht realisierbar. Was aber auch niemand behauptet hat, gibt es doch unzählige andere Möglichkeiten, Inhalte und Ordnungsrahmen des Sportunterrichts den epidemiologischen Erfordernissen anzupassen.

Faßmann versteht die Welt nicht mehr: Da rufen ihm ehemalige Verbandspräsidenten und abgetretene Politiker medial zu, wie die Schule in der infektiologisch heiklen Frage der gemeinsamen Sportausübung durch die größte Gesundheitskrise seit Menschengedenken zu führen sei. Wo es ihm doch verständlicherweise darum geht, das verbleibende Schuljahr möglichst ohne Neuinfektionen abzuschließen. Scharfe Kritik also aus dem organisierten Sport der Verbände und Vereine, der angesichts von Covid-19 allerdings selbst eher vorsichtig agiert – und es jahrzehntelang nicht vermochte, die Ausweitung der staatlichen Sportförderung in messbar höhere Sportaktivität der Bevölkerung umzumünzen.

Die Entscheidung, ob und allenfalls wie "Bewegung und Sport" auf dem Stundenplan steht, den einzelnen Schulen zu überantworten, muss dem Minister zu riskant gewesen sein. Die Schulautonomie schien zunächst in diesem Punkt ausgehebelt: Der Unterricht solle ab 15. Juni optional und jedenfalls am Nachmittag erfolgen. Drei Tage nach der Pressekonferenz kam dann per gemeinsame Presseaussendung mit der Sportunion die Kehrtwende: "In welchen Sportarten, Gruppengrößen und zu welchen Zeiten" Sport betrieben wird, obliege "natürlich der Autonomie der Schulen." Engagierte Bewegungserzieherinnen und -erzieher, die krisenbedingt um das Wohl ihrer Schülerinnen und Schüler besorgt sind, wollten die wenigen Unterrichtstage bis Schulschluss für den direkten Kontakt nutzen. Sie fühlten sich verständlicherweise in ihrer professionellen Rolle missverstanden und geringgeschätzt.

Permanente Konkurrenz

Bei aller berechtigter Empörung darüber, dass Bewegung und Sport in der Schule – jetzt nach dem Lockdown für alle sichtbar – oft unter ihrem Wert geschlagen werden, ist das dahinterliegende Problem noch viel größer: Unsere Bevölkerung bewegt sich im Vergleich zu anderen hochentwickelten Ländern quer durch alle Altersgruppen beschämend wenig. Gerade einmal ein Viertel erfüllt die WHO-Empfehlungen zur körperlichen Aktivität.

Der Sportunterricht in der Schule ist natürlich strategisch besonders wichtig, aber derzeit weit von empfohlenen, gesunden Bewegungszeiten entfernt. Selbst wenn die tägliche Bewegungseinheit umgesetzt würde, sollten sich Kinder und Jugendliche auch noch zusätzlich bewegen. Also liegt es natürlich in der Verantwortung der Familien – an Eltern und heutzutage vielfach auch Großeltern –, außerschulische sportliche Aktivitäten ihrer Sprösslinge zu ermöglichen: wahrscheinlich genauso eine Frage der Werte wie der praktischen Möglichkeiten. Die permanente Endorphin-Konkurrenz durch Smartphone, Tablet und Co macht es jedenfalls nicht leichter.

Das Narrativ, "die Schule" könne es für uns als Gesellschaft in Sachen Bewegung und Sport richten, ist gefährlich. Denn die selbst überwiegend inaktiven Eltern- und Großelterngenerationen dürfen aus Public-Health-Sicht nicht aufgegeben, sie müssen gleichermaßen angesprochen werden. Die gegenwärtige Pandemie verstärkt diese Notwendigkeit sogar, entscheidet doch der Grad unserer Resilienz maßgeblich über unser weiteres Schicksal als Volkswirtschaft. Daher sind alle gefordert: Bildungseinrichtungen (vom Kindergarten bis zur Volkshochschule) und organisierter Sport genauso wie Gemeinden mit ihrer Infrastruktur oder Unternehmen mit ihrer betrieblichen Gesundheitsförderung bis hin zu kommerziellen Anbietern wie Fitnessstudios.

Die Schule, so viel ist klar, kann das Problem der Inaktivität genauso wenig allein lösen wie der organisierte Sport. Die große Frage lautet, wie wir – quer durch alle Milieus – Schritt für Schritt zu einer mehrheitsfähigen Kultur des Ein-Leben-lang-in-Bewegung-Seins und Sporttreibens kommen. Die Experten dürfen nicht länger unter sich bleiben. (Markus Redl, 15.6.2020)