Fang Fang ist eine bekannte chinesische Schriftstellerin.

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Sechsundachtzig Tage eingesperrt sein in den eigenen vier Wänden, das Haus nur zu den allernötigsten Besorgungen verlassen dürfen, Angst vor einem unsichtbaren Feind. Das alles galt vor einem halben Jahr als Grenzerfahrung, die vielleicht eine posttraumatische Belastungsstörung verursacht, mit Sicherheit aber Stoff für ein Buch hergibt. Mittlerweile aber gehört der Lockdown zum kollektiven Erfahrungsschatz der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert. Warum also noch ein Tagebuch über diese Zeit lesen, auch wenn es am Entstehungsort der Pandemie selbst geschrieben wurde, wo elf Millionen Bewohner über Wochen in ihren Häusern eingeschlossen waren?

Das "Wuhan Diary" der chinesischen Schriftstellerin Fang Fang hat tatsächlich Längen und Schleifen und schildert in einer Breite mittlerweile allseits gut bekannte Angst-, Ohnmachts- und Einsamkeitszustände. Und doch ist das "Wuhan Diary" ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Denn wenn es nach den Wünschen Pekings ginge, sollte es dieses Zeugnis besser gar nicht geben. Es beginnt am 25. Jänner mit dem Satz: "Ich habe keine Ahnung, ob dieser Eintrag die Leser erreichen wird." Immer wieder beobachtet die Autorin, wie ihre Einträge auf ihrem Blog gelöscht werden. Trotzdem schreibt sie weiter – bis zum 24. März.

Bloggerin mit 3,5 Millionen Lesern

Fang Fang, die eigentlich Wang Fang heißt, wurde 1955 im ostchinesischen Nanjing geboren. Seit ihrem dritten Lebensjahr wohnt sie in Wuhan, wo sie in den Achtzigerjahren auch Literatur studierte – in einer Zeit des vorsichtigen Aufbruchs in China, wo bis kurz zuvor die Kulturrevolution alles Bekannte auf den Kopf stellen wollte. Schon vor der Pandemie war Fang Fang eine bekannte Schriftstellerin. Ihrem Blog folgen rund 3,5 Millionen Menschen.

Anfangs noch feierte die chinesische Netzgemeinde die kritische Stimme aus Wuhan. Doch schon bald griffen die Maßnahmen des staatlichen Propagandaapparats: Fang Fang wurde als "Verräterin" und "Marionette des Westens" verunglimpft. Denn ihr Tagebuch schildert, wie die chinesischen Behörden in den ersten Wochen wertvolle Zeit verspielten. Gemäß der Devise "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" sollten Informationen unterdrückt und Whistleblower wie der Arzt Li Wenliang mundtot gemacht werden. Und auch Fang Fangs Tagebuch sollte nicht gelesen werden: Hierzulande ist das Buch soeben auf Deutsch erschienen. In China erscheint es gar nicht. (Philipp Mattheis, 14.6.2020)