Als hätten sie in Brüssel eine Vorahnung gehabt: Schon im Sommer des Vorjahrs schmiss das Radsport-verrückte Belgien seinem großen Sohn Eddy Merckx eine gigantische Party, als der Start der Tour de France 2019 in der Hauptstadt ganz zu Ehren des "National-Kannibalen" gefeiert wurde. Corona sorgt nun dafür, dass der 75. Geburtstag des erfolgreichsten Radprofis der Geschichte am Mittwoch deutlich stiller ausfällt – und dennoch ist Baron Edouard Louis Joseph Merckx auch Jahrzehnte nach seinem Karrierende noch sehr präsent.

Baron Edouard Louis Joseph Merckx.
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"Manchmal ist es zuviel, die Selfies und Interviews ohne Unterlass. Es ist schwierig, hier in Belgien Eddy Merckx zu sein", sagte der Radsport-Pensionist, dem der etwas kleinere Bahnhof zum Ehrentag deshalb nicht ganz ungelegen kommt.

Keine Freude am Altern

Ohnehin kann sich Merckx auch aufgrund diverser körperlichen Wehwehchen nicht unbedingt mit dem Altern anfreunden. 2014 musste er sich einem kleinen Eingriff am Herzen unterziehen, 2019 stürzte ausgerechnet er, der König der Landstraße, schwer vom geliebten Rad und landete im Hospital. "Schon als ich 40 wurde, hatte ich es nicht leicht. 70 zu werden, fiel mir noch schwerer", sagte Merckx – nun also die 75.

Einst schien Merckx praktisch unverwundbar, er war eine schiere Naturgewalt. Niemand hat den Radsport so dominiert, niemand vor, niemand nach ihm, wie der Alleskönner aus Flämisch-Brabant. Kein Fausto Coppi, kein Jacques Anquetil, kein Miguel Indurain, kein Lance Armstrong.

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525 Rennen hat Merckx in 14 Profijahren gewonnen, fünfmal die Tour de France, fünfmal den Giro, einmal die Vuelta. Er feierte die meisten Tour-Etappensiege, die meisten Tage im Gelben Trikot. Dazu kommen drei WM-Titel, sieben Triumphe bei Mailand-Sanremo, drei Siege bei Paris-Roubaix. Sein 1972 in Mexiko Stadt aufgestellter Stundenweltrekord hatte 28 Jahre Bestand.

Unter all diesen Siegen ragt aber die Tour 1969 hervor, sie begründete seine Legende, seinen Ruf als radsportlicher Allesfresser. Bei jener Großen Schleife begnügte sich Merckx nicht damit, sie nur zu gewinnen. Es sollte auch möglichst kein Konkurrent etwas vom Trophäenkuchen abbeißen.

Alles

Als Merckx am 20. Juli 1969 Paris erreichte (und im Gesamtklassement knapp 18 Minuten Vorsprung besaß), hatte er sechs Etappen gewonnen, sich neben dem Gelben auch das Sprintertrikot, die Bergwertung, die Kombinationswertung, den Preis für den kämpferischsten Fahrer und mit seiner Faema-Mannschaft die Teamwertung geschnappt – nach heutigen Maßstäben schier unvorstellbar.

"Sportlich gesehen war er ein Killer. Er wollte alles gewinnen, dafür wurde er geboren. Eddy siegte auf allen Terrains, am Berg, im Sprint, gegen die Uhr. Es war der Höhepunkt dessen, was im Radsport erreicht wurde", sagte Frankreichs Radsport-Idol Bernard Hinault.

Nicht nur in Belgien eine Legende.
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Streitbar

Merckx ist ein streitbarer Begleiter des Radsportgeschehens geblieben, seine teils grummeligen Eingaben werden in Belgien Tagesgespräch. In seiner Heimat wird Merckx weitgehend unkritisch gesehen, und das ist nicht unbedingt gerechtfertigt: 1969 wurde er unter bis heute dubiosen Umständen wegen Dopings vom Giro ausgeschlossen. Merckx beteuerte seine Unschuld, seine Sperre wurde vor der folgenden Tour – jener, die er so dominierte – aufgehoben.

Zwei weitere positive Tests folgten 1973 und 1977, und spätere Enthüllungen zeigten: Der Kannibale hat weit mehr als nur Siege gefressen. (sid, 15.6.2020)