Im Gastkommentar antwortet Gottfried Schellmann, Steuerberater in Wien, auf Stefan Brocza. Für den Europarechtsexperten nimmt die Schweiz durch ein Bündel von Abkommen "faktisch am EU-Binnenmarkt teil". Schellmann rückt zurecht: Die Schweiz habe keine Notifizierungspflicht und müsse weder Verordnungen noch Beihilferahmen der Kommission beachten.

Die Bundesregierung hat viele Unterstützer, aber beinahe ebenso viele Gegner, das gehört zur Demokratie. Der Bundeskanzler zieht den Hauptteil der Kritik auf sich, egal was er sagt. Auch von mir geschätzte Experten tun sich als Kurz-Kritiker hervor und übersehen, dass sie über das Ziel schießen. So geschah es jüngst im Gastkommentar von Stefan Brocza "Einspruch, Herr Kurz!". Er brandmarkte Sebastian Kurz' Bemerkung in einem Kurier-Interview, die Schweiz sei nicht an EU-Recht gebunden, als falsch und versuchte den Bundeskanzler als Ahnungslosen, der nicht wüsste, wie eng die Schweiz an das Unionsrecht gebunden ist, hinzustellen.

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Kanzler Kurz sieht die Schweiz unter den Topstaaten, weil sie nicht an EU-Regeln gebunden sei.
Foto: Reuters / Leonhard Föger

Das war nicht die richtige Gelegenheit für diese Art Schnappatmungskommentar. Der Bundeskanzler lag bei seiner Äußerung richtig. Die Schweizer Stimmbürger hatten im Referendum vom 6. Dezember 1992 den EWR-Vertrag, der den Efta-Staaten eine Teilnahme am Binnenmarkt ermöglichen sollte, mit Mehrheit abgelehnt. Erst 1999 wurden mit sieben Abkommen, den sogenannten Bilateralen I, Verträge abgeschlossen, die die Schweiz dem Binnenmarkt näherbrachten, ohne dessen Vorschriften vollständig zu übernehmen. So gilt das Freizügigkeitsabkommen nur für natürliche Personen und nicht für Gesellschaften. Es folgten weitere Abkommen wie die Bilaterale II, Schengen, Dublin et cetera. Schon 1972 war ein Freihandelsabkommen abgeschlossen worden. Die Schweiz ist geopolitisch, wie auch wirtschaftlich, in die EU eingebettet und der drittwichtigste Auslandsmarkt der EU mit Exporten von rund 150 Milliarden Euro, nach den USA und dem Vereinigten Königreich. Sie ist Nettoimporteur im Warenhandel, aber dennoch bei weitem nicht den gleichen Vorschriften unterworfen, wie die übrigen Efta-Staaten. Der Versuch, die bisherigen Verträge in ein Rahmenabkommen mit der EU zu fassen, welches das Land stärker an den Binnenmarkt binden würde, scheitert zurzeit am innenpolitischen Prozess. Der ausverhandelte Vertrag würde von den Stimmbürgern in einem Referendum abgelehnt werden.

Kein Geld für EU-Haushalt

Die Schweiz zahlt auch keine zwei Milliarden Euro in den EU-Haushalt, wie dies fälschlicherweise auch auf Wikipedia vermittelt wird. Der Wähler hat einem Programm in der Höhe von 1,3 Milliarden Schweizer Franken für Projekte in Staaten, die nach den 1. Mai 2004 der EU beigetreten sind, zugestimmt. Die sind großteils beendet. Im Jahr 2020 werden noch für Rumänien, Kroatien und Bulgarien 43 Millionen ausbezahlt. Der Anteil der Schweiz am Forschungsprogramm Horizon 2020 beträgt im Jahr 2020 590 Millionen Schweizer Franken, wovon ein Großteil für Schweizer Forschungsprojekte zurückfließt. Für die Europäische Weltraumorganisation werden 183 Millionen Schweizer Franken bezahlt. Bei Erasmus zahlt die Schweiz nicht in das EU-Budget.

Keine Notifizierungspflicht

Die Äußerung des Bundeskanzlers bezog sich nicht auf die allgemeinen vertraglichen Bindungen der Schweiz, sondern konkret auf die beihilferechtlichen Bestimmungen. Die Schweiz ist zur Einhaltung der Vorgaben, die im Freihandelsabkommen 1972 zum Subventionsrecht geregelt sind, verpflichtet. Sie hat keine Notifizierungspflicht und muss weder Verordnungen noch Beihilferahmen der Kommission beachten. Das ist der Unterschied zu Österreich.

Schweizer Bürgschaftsmodell

Die Schweiz konnte ein Bürgschaftsmodell einrichten, das eine Kreditvergabe bis 500.000 Schweizer Franken an 120.000 Unternehmen ermöglichte, mit keinen Kosten und einer Laufzeit von fünf Jahren, verlängerbar auf weitere zwei Jahre. Die Eidgenossenschaft besichert diese Kredite mit 100 Prozent. Ein ähnliches Modell wollte auch der Bundeskanzler, scheiterte aber an den Vorgaben der Kommission, die befristete Beihilfen für "Unternehmen in Schwierigkeiten" nicht zuließ. Die Definition für "Unternehmen in Schwierigkeiten" ist eng gefasst, weil nicht auf die Insolvenz abgestellt wird, sondern auf Verluste, die das in ein Unternehmen einbezahlte Kapital zur Hälfte aufgebraucht haben. Das bedeutet, dass beinahe 40 Prozent der österreichischen KMUs von einer Unterstützung über die sogenannte De-minimis-Grenze hinaus ausgeschlossen waren, obwohl sie nicht insolvent sind. Dass die Vorgaben zu restriktiv sind, hat jüngst die Kommission erkannt und holt nun Stellungnahmen von den Mitgliedstaaten ein, um dies zu ändern.

Ein Untergang von 40 Prozent der KMUs hätte eine enorme Folge für den Arbeitsmarkt. Das hat Sebastian Kurz erkannt. Die Regierung gibt genug Gelegenheit für Kritik. Die beinahe schon lächerliche Attitüde, Ankündigungen zu machen, die nie einzuhalten sind, erinnert bald an die Marketingstrategie der Kaufhäuser in der UdSSR, bei meist leeren Regalen ein Vollsortiment anzupreisen. (Gottfried Schellmann, 16.6.2020)