Arrigo Cipriani empfängt in seinem Büro, zwei Stockwerke über seiner legendären Harry’s Bar, und blickt nachdenklich aus dem Fenster. In einem Venedig ohne Touristen liegt der Canale della Giudecca so ruhig und unbefahren da wie kaum jemals zuvor. Es ist der erste Tag nach fast zweieinhalb Monaten virusbedingten Lockdowns, an dem die Lokale in Italien wieder Gäste empfangen dürfen. Doch wie die meisten Wirte der Stadt will Cipriani noch zuwarten. Erst im August soll die Harry’s Bar, eines der berühmtesten und geschichtsträchtigsten Lokale der Welt, wieder aufsperren.

Dann kämen auch die Touristen wieder, hofft der 88-Jährige. Wie man mit den zahlreichen Hygieneregeln umgehen werde, wisse er allerdings noch nicht. "Einfach wird es sicher nicht. Bei uns hat alles stimmig zu sein, die Platzierung und Höhe der Tische, das gebügelte Leinen für die Tischtücher, die Beleuchtung. Ob das alles mit dem den neuen Verordnungen vereinbar ist, muss sich erst zeigen. Viele meinen, dass das Entscheidendste das Essen ist. Aber meine Vorstellung eines Restaurants ist in erster Linie der Empfang und das Umsorgen der Gäste, die Kultur der Dienstleistung. Zu bewirten hat in erster Linie mit Liebe zu tun", so Cipriani.

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Arrigo Cipriani wird Harry's Bar erst wieder im August aufsperren.
Foto: AP/ Antonio Calanni

Damit spricht der Doyen der italienischen Gastwirte sehr vielen Menschen aus der Seele, die sich in den langen Wochen und Monaten des Lockdowns nach einem Gasthausbesuch sehnten. Zum ersten Mal seit der Erfindung der Restaurants vor circa 200 Jahren musste die Welt ohne auskommen. Eine Situation, zu der es nicht einmal während der Kriege kam. Denn selbst dann gab es Lokale, die offenhielten, auch wenn sie häufig kaum etwas anzubieten hatten. Was nur zusätzlich belegt, dass Essen und Trinken doch nicht so viel mit dem Restaurantbesuch zu tun haben, wie man annehmen würde.

Mit Gastlichkeit punkten

Nun wurde vielen erstmalig bewusst, was ihnen durch das Fehlen von Gastbetrieben aller Art tatsächlich abhanden kommt. Nämlich ein Erlebnis, das auch der weltbeste Zustelldienst der Welt nicht ersetzen kann. Also die Möglichkeit der Zusammenkunft, der Geselligkeit, der Nähe zu Menschen, die einem weitgehend unbekannt sind. Und mit denen man dennoch den bedeutenden und intimen Moment der Mahlzeit teilt. Sollte sich, wie zu hoffen ist, diese Erkenntnis auch bei den Lokalbetreibern durchsetzen, könnte das Gastgewerbe im Allgemeinen durchaus als Sieger aus der Krise hervorgehen.

Viel zu lange standen vor allem in der gehobenen Gastronomie Selbstdarstellung, Medienpräsenz und Starruhm im Mittelpunkt. Das Essen selbst, in den meisten Fällen angeboten als sogenanntes Verkostungsmenü ohne Auswahlmöglichkeit für den Gast, wurde zu einer Art Instagram-tauglichem Katalog des Könnens des Küchenchefs.

Gleich einem Modeschöpfer, der seine Modelle über den Laufsteg schickt, sendete er seine Köche an den Tisch, die oft ausschweifend und jedenfalls ungefragt über die Entstehung der einzelnen Gerichte, die Kochdauer der Sellerieknolle und die Herkunft des im selbstgebackenen Brot verwendeten Sauerteigs schwadronierten.

Ein Erklärungsdrang, durch den nicht nur das Gespräch am Tisch unterbrochen, sondern auch das Gesamterlebnis gestört wird. Und der beispielsweise keinem Theaterregisseur, aber ebenso wenig besagtem Modeschöpfer jemals in den Sinn käme.

Neue Konzepte liefern

Dass ein Umdenken möglicherweise bereits eingesetzt hat, zeigt sich an einer gewissen Art von Demut, die einige der bekanntesten Küchenchefs der Welt in den letzten Wochen an den Tag legten. Unter ihnen etwa Ciprianis Landsmann Massimo Bottura. Genau wie viele weitere Starköche entschied sich der Betreiber der Osteria Francescana, eines der vermeintlich besten Restaurants der Welt, für die Essenzustellung. Und ging sogar so weit, seine Gerichte bis ins von seiner Heimatstadt Modena über zwei Autostunden entfernte Mailand zu liefern. Und das zu für seine Verhältnisse erstaunlich moderaten Preisen.

"Am Tag vor dem Lockdown waren noch alle unsere Lokale restlos ausgebucht", erzählt Bottura, "natürlich brauchte es ein wenig, bis wir den Schock der plötzlichen Schließung verdaut hatten." Dass er sich einmal mit Zustellung beschäftigen würde, habe er sich bis dahin selbst nicht vorstellen können, betont er. Finanziell ausgezahlt habe es sich freilich auch nicht. "Dennoch erschien es uns als geeignetes Mittel, um die Flamme am Leben zu halten und mit unseren Gästen in Kontakt zu bleiben."

Massimo Bottura setzte auf Hauszustellung und kochte während der Quarantäne live auf Instagram.

Auch der flamboyante Wirt und Kunstliebhaber glaubt, dass in Zukunft mehr als zuvor der Gast im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen hat. "Wir müssen der Geselligkeit wieder mehr Beachtung schenken", so der Maestro, "und wir müssen mehr auf die lokalen Gäste und deren Wünsche eingehen. Und zwar bis die Reisetätigkeit wieder zunimmt und darüber hinaus."

Essen im Glas & Burger

Neben Bottura setzen auch andere dreifach besternte Köche wie Enrico Crippa oder Niko Romito auf Zustellung, ebenso wie einige heimische Kollegen. Darunter Konstantin Filipou vom gleichnamigen Restaurant und Heinz Reitbauer vom Steirereck, beide in Wien, oder Max Stiegl vom Gut Purbach im Burgenland. Letztgenannter begann während des Lockdowns damit, Essen in Gläser zu packen und bis in die Hauptstadt zu liefern. "Die Zustellung ist wahnsinnig gut angekommen, wir werden mit Sicherheit weitermachen und vermutlich bald auch einen Shop in Wien eröffnen", sagt Stiegl.

Bemerkenswert dabei ist, dass es sich bei seinen zugestellten Speisen ausschließlich um Gerichte wie Beuschel, Rindsrouladen, Parpikahendl oder Szegediner Gulasch handelt. Und somit um weithin vertraute und beliebte Hausmannskost – und nicht um die Fine-Dining-Küche, für die sein Lokal bekannt ist.

Österreichische Spitzenköche packten Hausmannskost ins Glas. (hier Gulasch von Konstantin Filippou, via Porcella.at.)
Foto: Porcella/Thomas Apolt

Dieses ist indessen seit Ende des Lockdowns wieder gut besucht. Dabei kommt dem Wirt entgegen, dass es sich beim Gut Purbach um ein Ausflugsrestaurant handelt, das von Wien schnell zu erreichen und weniger abhängig von ausländischen Touristen ist. Und zudem daran, wie Stiegl betont, dass man hier auch einzelne Gerichte aus der Karte wählen kann.

"Wer ausschließlich ein Verkostungsmenü anbietet, verschreckt eben viele und vor allem lokale Gäste, die lieber auf ein Glas und ein kleines Gericht vorbeischauen würden, aber nicht unbedingt mehrere Stunden vor einem mehrgängigen Menü sitzen möchten", so Stiegl.

Während sich die Demut bei einigen ausgerechnet durch die bis vor kurzem noch verpönte Essenszustellung ausdrückt, setzen andere Chefs auf unterschiedliche Maßnahmen, um zumindest die Einheimischen wieder für sich zu gewinnen. Wie etwa der Däne René Redzepi, der in seinem mythischen Kopenhagener Noma statt eines 350-Euro-Menüs nun Burger um 16 Euro anbietet.

Dass die meisten Kopenhagener auf die saftigen Laberln wohl eher ansprechen als auf das Entenhirn serviert im Entenschädel, mit dem der Küchenchef noch vor wenigen Wochen von sich reden machte, davon ist auszugehen. (Wenngleich der Instagram-Hype um beide Gerichte sich ungefähr die Waage halten dürfte.)

Das Noma setzte bis 21.6. vorübergehend auf Burger. Am letzten Tag standen die Leute hunderte Meter lang Schlange. Ab 9. Juli ist das Noma wieder regulär geöffnet.

Milde walten lassen

Allen Küchenchefs kommt zugute, dass sich auch die zwei international bedeutendsten Bewertungsorganismen, nämlich der Guide Michelin und die Liste der 50 Best Restaurants oft the World, nachsichtig zeigen und auf die Unterstützung der Gastronomie setzen. So fordert etwa der gefürchtete Michelin die Lokalbetreiber auf, ihm Bescheid zu geben, ab wann man wieder bereit sei, um von einem Tester besucht zu werden. Bei den 50 Best hat man indessen die Bekanntgabe der Reihung der besten Restaurants vorerst verschoben. Ursprünglich war der 2. Juni als Termin geplant.

"Das ist jetzt wohl nicht der richtige Moment für Gastrokritiken", sagt Christian Grünwald, "Chairman" der 50 Best für Österreich und selbst Herausgeber des Á la Carte-Guides, "die Wirte haben genug um die Ohren, da werden wir nicht noch zusätzlich auf sie hinhauen und ihnen mit Punkten und Stricherln kommen.

Zudem kann man einen Hochleistungsbetrieb wie ein Spitzenrestaurant nicht bewerten, wenn er gerade nur mit halber Kraft arbeitet", so Grünwald. Da kann man ihm freilich schwer widersprechen. Zumal die Restaurants, um aus der Krise zu kommen, in nächster Zeit weder auf Guides noch auf unnahbare Starköche, sondern ausschließlich auf eines setzen können. Nämlich auf möglichst zufriedene Gäste. (Georges Desrues, RONDO, 19.6.2020)