Gerhard Baader mit dem von ihm mitherausgegebenen Buch "Medizin und Nationalsozialismus", das 1980 einen wichtigen Anstoß zur Aufarbeitung der Rolle der Ärzteschaft und der Biowissenschaften während der NS-Zeit und danach gab.

Johanna Dielmann-von Bergh / Springer Medizin

Gerhard Baader war vermutlich der letzte Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung, der an einer deutschsprachigen Universität lehrte. Kurz vor Vollendung seines 92. Lebensjahrs starb der gebürtige Wiener nach einem reichen Leben als politisch engagierter Wissenschafter in Berlin. Seit den 1970er-Jahren und bis zuletzt hat Baader wichtige Beiträge dafür geleistet, dass man sich in Deutschland und in Österreich mit der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus beschäftigt.

Geboren 1928 in Wien, wuchs Baader als Sohn einer christlich-jüdischen Familie in eher bescheidenen Verhältnissen auf. Prägend für sein weiteres Leben war sein frühes sozialdemokratisches Engagement (er trat mit 17 in die Sozialdemokratie ein und blieb ihr bis zuletzt mehr oder weniger kritisch treu) sowie die Erfahrung des Nationalsozialismus: In der NS-Zeit galt er als "Mischling ersten Grades" und musste deshalb 1942 bis 1945 Zwangsarbeit leisten, in den letzten Monaten vor der Befreiung in einem Arbeitslager der Waffen-SS. Da sein Vater katholisch war, blieb ihm noch Schlimmeres erspart.

Antifaschistische Prügeleien

Nach dem Krieg konnte Baader in Kursen für politisch und "rassisch" Verfolgte die Matura nachmachen und studierte von 1948 bis 1952 an der Uni Wien allgemeine Sprachwissenschaft, klassische Philologie und Geschichte. Zugleich war er im Rahmen des Verbands Sozialistischer Studenten in Österreich und als Antifaschist höchst aktiv. Bei einem Gespräch im Februar erinnerte er sich nicht nur an den rechtskonservativen Nachkriegsmief an der Uni, sondern – halb verschmitzt – an seine letzte Prügelei, die er sich mit rechten Kommilitonen in Wien lieferte: "Das muss 1953 oder 1954 gewesen sein," so Baader, der zwar eher schmächtig von Statur war, aber ein großes Kämpferherz besaß.

1954 übersiedelte er nach Deutschland und arbeitete dann zwölf Jahre lang am Mittellateinischen Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit. Von München ging es nach Berlin, wo er ab 1967 am Institut für Geschichte der Medizin an der Freien Universität Berlin lehrte und sich im Rahmen der '68er-Bewegung engagierte. Seine vielfältigen Aktivitäten und Initiativen blieben dabei nie auf das akademische Milieu beschränkt: Es ging Baader immer um eine offenere, gerechtere, humanere und bessere Gesellschaft.

Medizin im NS als Lebensthema

Spätestens ab seiner Habilitation 1979 lieferte Baader dann wichtige Beiträge zur Geschichte der Euthanasie und der Medizin im Nationalsozialismus. Er tat das nicht nur durch seine Forschungen und als Buchautor, sondern vor allem durch den 1982 von ihm gegründeten "Arbeitskreis für die Erforschung der Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation".

Der Medizin im Nationalsozialismus warf er vor allem Reduktionismus (auf das Experiment) und Unmenschlichkeit vor. Seine Kritik traf freilich nicht nur medizinische Praktiken von 1933 bis 1945. Stets hellwach an den jüngsten Entwicklungen interessiert, nahm Baader immer wieder auch medizin- und bioethisch zu so mancher aktuellen Fehlentwicklung im Gesundheitssystem, in der medizinischen Forschung oder in der Pharmaindustrie Stellung. "Vorwärts und nie vergessen" war so etwas wie sein Lebensmotto.

Zum Bundesverdienstkreuz und zum Neunziger gab es für Gerhard Baader ein kleines filmisches Geburtstagsgeschenk, hier der Trailer.
ML

Die Aufarbeitung der NS-Medizin sollte Baaders Lebensthema werden. Er und zahlreiche seiner Schülerinnen und Schüler widmeten ihre Forschungen der Rolle der Ärzte, Eugeniker und Rassenbiologen insbesondere in den Jahren von 1933 bis 1945, aber auch in der Zeit davor und danach. Baaders Einfluss ging dabei aber weit über die akademische Medizingeschichte hinaus: Als geschickter Netzwerker brachte er Menschen aus verschiedensten Bereichen und Milieus zusammen – Interessierte aus medizinischen Einrichtungen und der ärztlichen Praxis ebenso wie von Patientengruppen oder lokalen Initiativen und Geschichtsvereinen.

Deutschunterricht für Flüchtlinge

Nach zehn Jahren als außerplanmäßiger Professor wurde Baader 1993 pensioniert und lebte die nächsten zehn Jahre in Israel als Visiting Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zurück in Berlin nahm er seine Lehrtätigkeit an der FU Berlin wieder auf und wurde abermals zum wichtigen Lehrer und Anreger für eine weitere Generation von jungen Studierenden. Nebenbei gab Baader 2015 aber auch noch syrischen Flüchtlingen Deutschunterricht, was sogar in der Jerusalem Post eine eher kritische Würdigung fand.

Zu seinem 90. Geburtstag erhielt der Medizinhistoriker, der bis zuletzt auch in der jüdischen Gemeinde in Berlin und im Rahmen des Vereins "Child Survivors Deutschland" aktiv war, spät aber doch eine hohe Ehrung durch den Staat: nämlich das deutsche Bundesverdienstkreuz.

Am 14. Juni starb Gerhard Baader in Berlin. Sein nimmermüdes Engagement, sein unbestechliches Urteil und sein tiefer Humanismus werden fehlen. (Klaus Taschwer, 17.6.2020)