Die Tschagyrskaja-Höhle war einst der Wohnsitz von Neandertalern.
Foto: Bence Viola, Dept. of Anthropology, U. of Toronto

Die überschaubare Zahl an archäologischen Funden und das völlige Fehlen historischer Aufzeichnungen lassen uns die Ära des Neandertalers kleiner und einheitlicher erscheinen, als sie tatsächlich gewesen sein dürfte. Immerhin hat unser Verwandter Europa, Westasien und Zentralasien über 100.000 Jahre lang besiedelt. In diesem immens langen Zeitraum muss sich eine wechselvolle Geschichte an Wanderungen, Neubesiedlung und kultureller Weiterentwicklung abgespielt haben, was sich anhand von Funden aber bestenfalls erahnen lässt.

Einen kleinen Einblick in diese verlorene Geschichte gewährt nun ein Fund aus Sibirien. Ein Forscherteam unter der Leitung von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat nämlich das Genom einer Neandertalerin sequenziert, das insgesamt dritte Neandertalergenom überhaupt. Und obwohl die Überreste der Frau nicht allzuweit von denen eines Artgenossen gefunden wurden, hatte sie einen ganz anderen Ursprung.

Entfernte Verwandte

Der Fund stammt aus der Tschagyrskaja-Höhle im Altaigebirge. Die Forscher extrahierten DNA aus Knochenpulver und sequenzierten diese in hoher Qualität. Die Ergebnisse zeigten, dass die Knochen von einer Neandertaler-Frau stammen, die vor 60.000 bis 80.000 Jahren lebte. Weiters lässt sich aus ihnen ableiten, dass die Frau und ihre Zeitgenossen in kleinen Gruppen von weniger als 60 Individuen zusammenlebten.

Zum Vergleich standen die Daten von zwei schon früher sequenzierten Neandertaler-Genomen zur Verfügung. Eines stammte von einem Individuum aus der Vindjia-Höhle in Kroatien, der andere aus der berühmten Denisova-Höhle im Altai, nur etwa 106 Kilometer von der Tschagyrskaja-Höhle entfernt. Dennoch zeigte sich, dass die Frau enger mit dem kroatischen als mit dem sibirischen Neandertaler verwandt war.

Wandel

Der Mann aus der Denisova-Höhle hatte etwa 40.000 Jahre vor der Frau aus der Tschagyrskaja-Höhle gelebt. Die Bevölkerung der Region ist also nicht über zehntausende von Jahren hinweg konstant geblieben: Irgendwann in diesem Zeitraum scheinen Neandertaler-Gruppen aus Europa in Sibirien eingewandert zu sein und die alteingessenen ersetzt zu haben. Analysen von Steinwerkzeugen waren zuvor bereits zu einem vergleichbaren Ergebnis gekommen.

Fanden sie Spuren ihrer Vorgänger oder hatten sie keine Ahnung, dass lange vor ihnen schon Menschen ihrer Art in der Region lebten? Die genauen Umstände dürften sich kaum je rekonstruieren lassen, aber die neuen Erkenntnisse geben zumindest eine Ahnung davon, dass die Ära des Neandertalers um einiges dynamischer war, als man einst gedacht hatte. (red, 18. 6. 2020)