In den 1960er-Jahren begann Franz Erhard Walther das Mitmach-Element als Teil der Werkbildung zu propagieren. Dafür erntete er viel Unverständnis. Bis heute gilt der Künstler als unterschätzt.

Foto: VG Bild-Kunst/ Maximilian Geuter

Ausgerechnet eines der kaum bekannten frühen Wortbilder aus den 1950er-Jahren drängte sich zuletzt als lakonischer Krisen-Kommentar auf: "Ich war draußen" steht darauf zu lesen. Tatsächlich war es während der Corona-bedingten Schließungen von Museen und Kunstinstitutionen bekanntlich das Publikum, das draußen war – beziehungsweise dort bleiben musste.

Ein Umstand, der den bald 81-jährigen deutschen Konzeptkünstler Franz Erhard Walther dazu bewog, seine Anfang März eröffnete Retrospektive Shifting Perspectives im Münchner Haus der Kunst spontan um ein für die Außenfassade gestaltetes Werk zu erweitern. Text-Projektionen wie Körper sind die Grenzen wurden ihrerseits gefilmt und auf die Website übertragen.

Hosenbein und Mantestück: "Zieh mich an!"

Ein gutes Beispiel dafür, dass durch die Zwangsverlagerung der Kunst ins Digitale zwar durchaus achtbare Zusatzangebote entstanden sind, sie das analoge Kunsterleben aber kaum ersetzen können. Wie der 1939 geborene Bäckerssohn aus Fulda, den die Süddeutsche Zeitung einmal als "wichtigsten deutschen Künstler, den fast niemand kennt", bezeichnet hat, das Verhältnis zwischen Werk und Betrachter um zwei entscheidende Elemente, nämlich um die Handlung und den durch sie entstehenden Raum, bereichert hat, lässt sich am Ende halt doch am besten dort nachvollziehen, wo zumindest ein Minimum an Interaktion möglich ist.

Es sieht in der von Jana Baumann kuratierten Schau auf den ersten Blick aus wie in einer gut sortierten Textilwarenhandlung, die sich an allen Ecken selbstständig gemacht hat: Bunte, fein säuberlich gefaltete, gestapelte und gerollte Stoffstücke und Bahnen lagern neben leuchtend gelben oder roten Wandformationen, schlauchartige Gebilde klettern die Wände hoch, ein textiles Alphabet tänzelt keck zwischen Malerei, Skulptur und Architektur.

Im mittlerweile wiedereröffneten Münchner Haus der Kunst rufen ein Hosenbein, ein Mantelstück, ein loser Ärmel: Zieh mich an! Daneben mahnt die Museumsordnung: Bitte nicht berühren. Das Schicksal, das eine auf Interaktion angelegte Kunst unweigerlich ereilt, wenn sie auf institutionelle Logiken trifft, bemüht man sich mithilfe von Performern zu lindern, die regelmäßig Werke "aktivieren", sprich: in Betrieb nehmen. Unter Anleitung dürfen auch Besucher auf Tuchfühlung mit Kopien ausgewählter Werkstücke gehen.

Viel Unverständnis

Anfang der 1960er-Jahre ließ Walther das Bild als Großer gelber Kasten einfach aus der Wand kippen, mit seinen Textilobjekten begann er wenig später, das Mitmach-Element als Teil der Werkbildung zu propagieren. Und erntete viel Unverständnis. Dazu gibt es lebhafte Erzählungen: eine Kissenschlacht, die Kommilitonen an der Kunstakademie Düsseldorf mit seinen Werken veranstaltet haben, der zuvor erfolgte Rauswurf aus der Frankfurter Städelschule, der Konflikt mit Joseph Beuys, der Walthers Arbeiten einst abschätzig als "Beamtenkunst" bezeichnet haben soll. Festgehalten hat der Künstler solche Episoden in seinem tagebuchartigen Zyklus Sternenstaub.

Es gibt also reichlich Stoff für die Geschichte vom ewig verkannten, aber beharrlichen Außenseiter, den es immer wieder neu zu entdecken gilt. Andererseits ist der Einfluss, den der 2017 mit dem Goldenen Löwen der Venedig-Biennale ausgezeichnete Künstler auf nachfolgende Generationen hatte, längst unbestritten. Zu seinen Schülern an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg zählten unter anderem Martin Kippenberger, Jonathan Meese, Rebecca Horn und John Bock. Walthers 1963 aus Nesselstoff genähte und zum aktiven Gebrauch bestimmte Körperformen dürften auch Franz West ein Begriff gewesen sein, der rund zehn Jahre später mit seinen Passstücken aus Pappmaché und Gips an der Erweiterung des menschlichen Körpers werkte.

Künstler als Aktionist

Shifting Perspectives wirft auch ein paar konzentrierte Blicke auf frühe Arbeiten, darunter die erwähnten Wortbilder. Woanders glaubt man eher, es mit einem Aktionisten zu tun zu haben: Eine Fotografie zeigt den jungen Künstler mit Strubbelfrisur, farbfleckiger Kleidung und im Schneidersitz im Atelier eine Mischung aus Mehl und Wasser in eine silberne Schüssel speiend beim "Versuch, eine Skulptur zu sein".

Es gelang ihm am Ende besser mit den Körper erweiternden Handlungsbahnen aus Stoff. Genäht werden die im Übrigen bis heute von seiner ersten Frau Johanna. (Ivona Jelčić, 19.6.2020)