Das gemeinsame Europa steht vor einer Zerreißprobe wie selten zuvor. Es ist den 27 Staats- und Regierungschefs der EU zuzutrauen, dass sie das Projekt für Frieden und Wohlstand aus nationalen Egoismen und mangelnder Weitsicht an die Wand fahren.

Da soll sich nur niemand täuschen, der vor dem EU-Budget- und Wiederaufbaugipfel versucht, die Sprengkraft der Corona-Krise und die Interessengegensätze der Mitgliedstaaten zu unterschätzen oder gar kleinzureden. Die Dynamik des Abschwungs ist so stark, dass die Länder in einem Tempo auseinanderdriften, wie man es bisher nicht kennt: Die Starken werden relativ stärker, die Schwachen deutlich schwächer. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Das gemeinsame Europa steht vor einer Zerreißprobe wie selten zuvor.
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Insofern hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel recht, wenn sie davor warnt, jetzt allzu naiv zu sein: Wenn die sozialen Probleme infolge der Krise größer werden, werden die antieuropäischen, autoritären Kräfte an Boden gewinnen. Die Vertreter der Staaten täten also gut daran, sich bei der Gestaltung eines deutlich vergrößerten EU-Rahmens zu einigen. Es muss ein Ausgleich her.

Das bedeutet nicht, dass man blind allem zustimmt. Legitime Einwände der "Sparsamen Vier" – Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande – sind durchaus angebracht. Es gibt ernsthafte Bedenken beim Wiederaufbauprogramm: Die Finanzierung steht auf tönernen Füßen, es stellt sich die Frage, warum Länder wie Ungarn, die von Corona kaum betroffen sind, trotzdem einen Geldregen erwarten dürfen. Bei Programmen wie Kontrollen muss nachgeschärft werden. Es muss klar sein, dass EU-Subventionen nur vergeben werden, wenn Rechtsstaatlichkeit eingehalten wird.

Bundeskanzler Sebastian Kurz hat also viele Punkte, die er einfordern kann, auch spezielle österreichische Anliegen. Das tun alle Staaten. Aber: Was von ihm fehlt, ist das klare Bekenntnis zur europäischen Solidarität. (Thomas Mayer, 19.6.2020)