Neunzig Prozent der Probleme zwischen Ägypten, dem Sudan und Äthiopien sind gelöst, sagen an den Verhandlungen Beteiligte – aber die bleibenden zehn Prozent führen derzeit wieder zur verbalen Aufrüstung: "Die Ägypter und der Rest der Welt wissen sehr gut, wie wir Krieg führen, wenn es nötig wird", sagte vergangene Woche der äthiopische Vizearmeechef Birhana Jula. Premier Abiy Ahmed beteuert, niemandem schaden zu wollen. In der Sache jedoch bleibt der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2019 – der nächstes Jahr Wahlen zu schlagen hat – hart: "Die Entscheidung, den Damm zu füllen, ist irreversibel."

Der Damm, das ist der "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (GERD) am Blauen Nil im Nordwesten Äthiopiens, nahe der sudanesischen Grenze. Die Arbeiten begannen vor einem Jahrzehnt, ein gigantisches Projekt, das die größte Wasserkraftwerksanlage in Afrika werden und Äthiopien einen Entwicklungsschub versetzen soll. Demnächst, im Juli, soll das Fluten des Beckens beginnen. Bis dorthin sollte eigentlich ein Abkommen mit den betroffenen Nachbarländern über den Betrieb des GERD fertig sein. Am Mittwoch endete die jüngste Verhandlungsrunde, die am 9. Juni begonnen wurde, erneut ergebnislos.

Bauarbeiten des "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (GERD) vergangenes Jahr.
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Dabei hatten von den USA und der Weltbank gesponserte Gespräche im Februar bereits beinahe zu einem Abschluss geführt. Kairo war zur Unterzeichnung bereit, Addis Abeba im letzten Moment nicht. Es geht um eine Regelung, wie der GERD in wasserarmen Jahren oder gar Perioden betrieben werden soll. Der Blaue Nil ist der Hauptzubringer des Nils, und genügend Nilwasser ist für Ägypten eine "Frage von Leben und Tod", wie in Kairo formuliert wird. Ägypten will seine Interessen "mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln" schützen. Das bedeutet erst einmal einen Gang in den Uno-Sicherheitsrat.

Genügend Nilwasser ist für Ägypten eine "Frage von Leben und Tod", wie in Kairo formuliert wird.
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Denn Kairo ist der Meinung, dass Addis Abeba gegen internationales Recht handelt, wenn es ohne Abkommen mit der Befüllung des Beckens beginnt. Ein von Äthiopien vorgeschlagenes Interimsabkommen lehnt Ägypten jedoch bisher ab, in der Befürchtung, dass aus Provisorien Dauerzustände werden und Äthiopien einfach Fakten schafft.

Hegemonie über das Wasser

Eine Verpflichtung, auch in Dürrezeiten eine festgelegte Menge an Wasser nach Ägypten durchzulassen, könnte, so argumentiert Äthiopien, zu inakzeptabel niedrigen Wasserständen am GERD führen. Äthiopien könnte praktisch in die Lage kommen, Ägypten und dem Sudan Wasser zu "schulden", das es selbst nicht hat, schreibt die International Crisis Group in einem Briefing. Die Angelegenheit hat aber auch eine historisch sensible Komponente: Addis Abeba fürchtet, dass die Kairo von den Briten in den 1920ern verliehene Hegemonie über das Nilwasser ungerechterweise festgeschrieben würde.

Beim Sudan sind die Probleme anders gelagert: Er würde prinzipiell vom Damm profitieren, nicht nur durch die Möglichkeit von Energieimporten, sondern auch durch Regulierung und theoretisch bessere Berechenbarkeit der Wassermengen. Aber Khartum will Sicherheitsgarantien, nicht zuletzt wegen seines eigenen Roseires-Damms am Blauen Nil.

Ein weiteres offenes Problem zwischen den Ländern ist der Streitbeilegungsmechanismus. Äthiopien will im Disputfall auf Verhandlungen setzen, während sich Ägypten und der Sudan eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit wünschen. Äthiopien will das nicht, weil es bisher ja gar keine rechtlich verbindlichen Abkommen zur Wasseraufteilung im Nil-Becken gibt, auf deren Grundlage geurteilt werden könnte. (Gudrun Harrer, 19.6.2020)