Mallorca 2020 – allein zu Hause: "Urlaub als Freiheitsphase ist eine Fiktion."

Foto: Imago / Chris Emil Janssen

Zeit hört auf zu existieren. Das ist das Bemerkenswerte an der Corona-Krise, meint der in Luzern lehrende Wiener Historiker Valentin Groebner. Zeit hört auf zu existieren, sofern Zeit Zukunft meint.

Die "flächendeckende Abschaffung der Nahzukunft" ist das Außergewöhnliche am viral Extranormalen. Nicht einmal Fahren auf Sicht, wie die komisch schiefe Politikmetapher lautet, war es. Stattdessen: Beschließen und Ausharren von Woche zu Woche. Ein so kurzatmiges Stakkato ist im Grunde der elementare Widerpart zum modernen Leben, bei dem Pläne gemacht werden, stetig ausdauernd, die Zukunft gestaltet und Ferienreisen gebucht werden.

Anti-Überdruss-Maßnahme

Worum ging es beim touristischen Aufbruch? Ferien waren ein Versprechen der Freiheit, Aussichten auf etwas jenseits von grauer Routine, Alltag, gleichtönigem Trott. Ferien, das ist Farbe, Rhythmus, Abenteuer, Erfüllung. Das Leben nicht als Tiefgarage, sondern als einsame Hütte am idyllischen einsamen Strand, Sonnenuntergang mit Palmen inkludiert.

Urlaub, so Groebner, ist die "unfehlbare Anti-Überdruss-Maßnahme". Tourismus, das war die ästhetische Erfüllung im Anderswo. Reisen ist, vielen psychologisch halb bis gar nicht bewusst, eine Wiedergutmachung des eigenen Lebens.

Doch in Wirklichkeit, so Groebners Erfahrung in diesem Frühjahr, ist Pittoreskes ohne touristische Besucher nicht verlockend, sondern unwirtlich und künstlich. Riesenstädte ohne Verkehr, ohne Menschen, ohne Gedränge, Restaurants und Geschäfte sind leblose Steinleviathane.

Man muss daran glauben

Bei Urlaub verhält es sich wie mit Gott. Man muss daran glauben. Tut man es nicht, löst sich die Magie sehr schnell auf. Urlaub als Freiheitsphase ist eine Fiktion. Und in dieser geträumten Anderszeit neigt man dazu, Inszenierungen schneller zu glauben als üblich. Ein unberührter Strand ohne Touristen ist das Ziel eines jeden Touristen.

Nur ärgerlich, dass etwa im Jahr 2019 weltweit 1,5 Milliarden Touristen unterwegs waren. "Anders reisen", schreibt Groebner mit feiner Klinge, ob als "ironischer Posttourist", "Alternativtourist" oder "Ökotourist", bedeutet in der Praxis faktisch eines: noch mehr reisen.

"How not to be a tourist" hieß es auf der Titelseite eines Magazins im Oktober 2019. Produzent und Herausgeber der Zeitschrift: die Billigfluglinie Easyjet, die vom Massentourismus lebt und daher jüngst in tiefste Bredouille abgetrudelt ist.

Touristische Angebote sind nicht nur Wunschmaschinen oder "Märchenangebote", sondern als Wiederholungsschleifen angelegt. Das Schöne muss einzigartig sein. Und zugleich endlos wiederholbar, also konfektioniert. Die Welt des Fremdenverkehrs, so die einstige Bezeichnung, ist eine geträumte, "das definitive Kaputtgegangensein dessen, was er zur Besichtigung anbietet", so Groebner.

Deshalb ist das Marketingkauderwelsch von "Traumdestinationen" ja so falsch gar nicht. Berührungsmagie, Einbalsamierung, Selbsterforschungsarbeit: Darum geht es beim Reisen. Man hebt die Zeit auf in Selfies. Und wer nicht "the time of his or her life" hatte in acht oder vierzehn Tagen, der oder die trägt ein schlechtes Gewissen mit sich herum. "Wenn Reisen wirklich zufrieden machen würde, müsste man nicht so viel davon berichten."

Wiederholungsschleifen

Im 18. und 19. Jahrhundert glaubten Reisende, Bewegung im Raum sei identisch mit Bewegung durch die Zeit. In der Gegenwart beruht Tourismus auf einer anderen Illusion: Er könne endlos anwachsen, ohne dass sich etwas verändere.

Fährt man in die Ferien, so fährt man in die Wünsche. Dabei können die überzogenen Ansprüche an Glück, Sinn, Schönheit, Erfüllung sämtlicher Genüsse nicht anders als enttäuscht werden. Jedes Jahr von neuem.

Urlaubswünsche machen egozentrisch: Jeder, der reist, will authentischer, echter, romantischer, tiefer das Fremde, das millionenfach reproduziert ist, sehen, fühlen, fotografieren als alle anderen. Und sie machen menschenfeindlich: Was machen nur diese urhässlichen Touristen in kurzen Hosen, Viskoseblusen und lächerlichen Kopfbedeckungen in meinem Urlaubsparadies?

Die sozialen Medien haben das absurd auf den Kopf gestellt. Zu überlaufenen Reisezielen werden jene "locations", die besonders viele "likes" bekommen. Dort ein Foto machen und es zu posten ist die Multiplikation des Überbekannten, nämlich das eigene Zeichen ins populäre Zeichen einfügen. Das außerordentlich Private wird obligatorisch weltumfassend.

Das Zurückgeworfensein auf Nichtreisen in Coronistan, spekuliert Valentin Groebner fast zu optimistisch, ist vielleicht die Möglichkeit, "der unablässigen Wiederholung der eigenen Wünsche von früher zu entkommen, die den Fremdenverkehr des letzten halben Jahrhunderts geprägt hat und ihn in unendlichen öden Wiederholungsschleifen organisiert". Das Ende des vertrauten Tourismus ist das Abseits. Also Attnang-Puchheim statt Aruba? Das Abseits – der "einzige Ort, an dem etwas Neues passiert"? (Alexander Kluy, 20.6.2020)