"Sprache bedeutet Gedankenfreiheit, sie ist immer das Gegenteil von Diktatur. Sie ist ein mächtiges Hilfsmittel", sagt Autor Marco Balzano.

Foto: Geri Krischker / Diogenes-Verlag

Der gebürtige Mailänder Marco Balzano zählt zu den erfolgreichsten italienischen Gegenwartsautoren. Er schreibt Gedichte, Essays, Erzählungen und Romane, die in 20 Ländern erscheinen. Der 42-Jährige arbeitet zudem als Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium.

Sein Roman Das Leben wartet nicht wurde 2015 mit dem Premio Campiello ausgezeichnet, und sein aktueller Roman Ich bleibe hier war für den Premio Strega nominiert, einen der wichtigsten Literaturpreise Italiens. Von diesem Buch, das in Südtirol spielt, wurden allein in Italien mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Darin beschreibt Balzano den Widerstandskampf einer Frau gegen Mussolini und ein Staudammprojekt.

STANDARD: Warum haben Sie als Schauplatz Ihres neuen Romans ausgerechnet ein kleines Dorf in Südtirol gewählt?

Balzano: Für mich ist Graun der Inbegriff dafür, wie brutal Geschichte sein kann. Es steht für all jene Dörfer, die von politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung dies verhindern konnte. Ich erzähle davon, wie ein sinnloser und blindwütiger Fortschritt nicht nur eine Landschaft zerstört, sondern auch eine Gemeinschaft und eine ganze Welt. Mein Roman spielt vor etwa 75 Jahren, aber diese Zerstörung findet auch heute noch statt, an vielen Orten.

STANDARD: Was genau ist in Graun passiert?

Balzano: Es wurde ab 1949 überflutet, wegen eines umstrittenen Staudammprojekts. Viele Bewohner kämpften jahrelang dagegen, und 26 Bauarbeiter starben bei der Arbeit. Die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Folgen für die Enteigneten waren verheerend. Und die verantwortliche Firma ist ihrer moralischen Verantwortung nicht nachgekommen. Ein perfides Beispiel: Die Mitteilungen an die Bevölkerung erfolgten immer bewusst auf Italienisch – einer Sprache, die die Bewohner nicht verstanden; im Vinschgau spricht man Deutsch.

STANDARD: Sprache als Mittel von Macht und Widerstand spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Roman. Hauptfigur ist eine Lehrerin, die Deutsch und Italienisch unterrichtet. Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit Sprache für Ihren Schreibprozess?

Balzano: Über die Sprache kann ich Ungerechtigkeiten, Leid und natürlich auch Lebensfreude benennen. Ein Schriftsteller sollte immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen – ich sehe das als größte Herausforderung. Mir geht es um ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. Grundsätzlich bedeutet Literatur für mich, die Seiten zu erzählen, die aus den Geschichtsbüchern herausgerissenen wurden; das gilt besonders für Graun. Aus diesem Grund fühle ich mich manchmal wie ein Taucher, der etwas Versunkenes aus der Tiefe des Wassers nach oben ins Licht bringt. In Ich bleibe hier wollte ich eine Frau darstellen, die das Wort als Mittel zum Widerstand verwendet. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Das gilt für uns alle: Solange es uns möglich ist, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren.

STANDARD: Ihre Protagonistinnen und Protagonisten können das allerdings nicht: Schon Mussolini hatte den Südtirolern verboten, ihre Sprache zu sprechen.

Balzano: Wenn man es sich genau überlegt, haben alle Diktaturen immer auch die Sprache betroffen. Sprache bedeutet Gedankenfreiheit, sie ist immer das Gegenteil von Diktatur. Sie ist ein mächtiges Hilfsmittel. In einer freien Welt dürfte man die Muttersprache niemals verlieren.

STANDARD: Wie hat sich Ihrer Meinung nach der Umgang mit Sprache in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Balzano: Die Globalisierung und das Internet haben eine sehr simple Vorstellung von Sprache verbreitet, die – lexikalisch betrachtet – armselig und grob ist. Der Philosoph und Schriftsteller Joseph de Maistre meinte, dass der politische Verfall stets von einem entsprechenden sprachlichen Verfall begleitet ist. Ich glaube, dass diese These momentan sehr gut sichtbar ist. Politiker wie Donald Trump oder Matteo Salvini wären nie dort, wo sie jetzt sind, ohne diesen sprachlichen Verfall. Wir können selbst entscheiden, ob wir diesen Verfall passiv, von der Ferne aus betrachten wollen oder uns die Sprache, das heißt das Instrument des Denkens, zu Herzen nehmen.

STANDARD: Was könnte gegen den Verfall unternommen werden?

Balzano: Sich zu verstecken oder Mauern zu errichten nützt jedenfalls nichts: Mauern sind im Lauf der Geschichte immer wieder eingerissen worden. Progressive Menschen haben nun die große Chance zu beweisen, dass "der Andere" ein Reichtum ist, auf den der in die Jahre gekommene Westen nicht verzichten kann. Unsere Sprachen sollten Brücken bauen und gemeinsame Räume schaffen statt geschlossene Abteilungen. Diese Chance wurde bisher allerdings vertan: Die Europäische Union hat sich seit den Zeiten der Wirtschaftskrise kaum solidarisch gezeigt und die schwächeren Länder alleingelassen, und im Umgang mit Migranten hat sie sich individualistisch gezeigt. Jetzt, in der Corona-Krise, kann man ein ähnliches Verhalten beobachten. Falls die EU aber wieder die Schwächsten alleinlässt, wird sie sterben. Es ist also definitiv ihre letzte Chance.

STANDARD: Glauben Sie, dass sich der solidarische Gedanke nach der Corona-Krise leichter vermitteln lässt?

Marco Balzano, "Ich bleibe hier". Aus dem Italienischen von Maja Pflug. 22,70 Euro / 288 Seiten. Diogenes, Zürich 2020

Balzano: Wenn wir nicht vergessen, was passiert ist, könnte tatsächlich eine bessere Welt entstehen. Schließlich haben wir in den vergangenen Monaten auf schlimmste Art erlebt, was geschieht, wenn die Politik nicht ausreichend ins Gesundheitssystem, in die Forschung und ins Schulsystem investiert. Was bis jetzt fehlt, ist eine Politik, die eine Vision und eine Strategie hat, denn sonst wird uns nur die Finanz regieren, die nichts Menschliches an sich hat. Ich möchte jedenfalls nicht zurück zur alten Normalität – wir brauchen eine neue!

STANDARD: Die Widerstandskämpferin in Ihrem Roman scheint sich von niemandem aufhalten zu lassen. Betrachten Sie Trina als Heldin?

Balzano: Ganz ehrlich: Ich mag das Wort "Heldin" nicht. Wenn man jemanden als Helden bezeichnet, heißt das: Du hast die Kraft, also musst du für mich kämpfen, denn ich bin kein Held. Samuel Beckett sagt: "Gesegnet sind die Leute, die keine Helden brauchen." Das sehe ich genauso. Wir brauchen stattdessen mehr Bürgerengagement, politische Teilhabe, mehr Sorge für unsere Welt. Sobald diese Dinge fehlen, passiert das Gleiche wie in Graun: Das Wasser steigt und überschwemmt alles.

STANDARD: Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie sich für die Perspektive einer Frau aus Graun entschieden haben?

Balzano: Ein paar Jahre lang habe ich alles studiert, was über die Geschichte des Dorfes zu finden war. Ich habe mir von Ingenieuren, Historikern, Soziologen, Lehrern und Bibliothekaren helfen lassen. Und vor allem habe ich den Augenzeugen jener brutalen Jahre zugehört; darunter war eine Frau, die mir ein altes Foto in die Hand drückte. Darauf zu sehen war eine Bekannte von ihr, die tief im Wasser stand, mitten in ihrem überfluteten Haus. Da wusste ich, dass ich eine starke und widerstandsfähige Figur wie sie will. Kurz darauf war mir auch klar, dass sie eine Lehrerin sein muss.

STANDARD: Sie selbst unterrichten an einem Mailänder Gymnasium. Worauf legen Sie im Umgang mit Ihren Schülern besonders Wert?

Balzano: Die spielerische Dimension des Unterrichtens und Lernens halte ich für besonders wichtig. Also bin ich grundsätzlich ein freundlicher und lustiger Lehrer. Früher, zu meiner Schulzeit, standen fast nur strenge und ernste Lehrer vor uns – das würde heute nicht mehr funktionieren. Mir ist es wichtig, eine lockerere Atmosphäre im Klassenzimmer zu schaffen, um zu motivieren. Meine Schülerinnen und Schüler sollen Spaß haben, doch sie müssen im Gegenzug jeden Monat mindestens einen Roman lesen und darüber mit mir diskutieren. Das ist mein Literaturdeal. (Günter Keil, 20.6.2020)