Marlene Streeruwitz: "Was wird wie in Sprache gefasst zu welcher Wirklichkeit?"

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Vor dem Lockdown. Jeden Montag um 6 Uhr am Abend. Die abholenden Eltern versammeln sich vor dem Turnsaal. "Hast du das verstanden? Bei den Hausaufgaben?", fragt eine Mutter. "Das mit dem Rechnen, das geht ja noch. Aber Deutsch? Ich kann mich an nichts erinnern", antwortet die andere Mutter und nimmt ihrer kleinen Tochter das Handy wieder weg.

"Ich auch nicht", sagt die erste Mutter. Die Frauen zucken mit den Achseln. Sie fragen sich, ob es sich noch ausgehen könnte, eine rauchen zu gehen. Aber die Fußballstunde ist zu Ende. Die Kinder laufen aus dem Turnsaal zu ihren Eltern heraus. Die beiden alternativen Mütter in der Ecke haben darüber geredet, wo sie Obst und Gemüse einkaufen. Hausaufgaben in der dritten Klasse Volksschule sind für ihre Bildungsstufe kein Thema.

Es ist kein schönes Zeugnis für die Schule, wenn es Universitätsstudien braucht, um sich der Satzanalyse des einfachen oder erweiterten Hauptsatzes erinnern zu können und damit das Kind bei den Hausaufgaben unterstützen zu können. Immerhin ginge es ja um das, was so ideologisch als "Muttersprache" geführt wird.

Das Interesse an den Sinneinheiten, die einen oder eine bilden. Ausmachen. Herstellen. Beeinflussen. Dieses Interesse ist also nicht geweckt worden. Beziehungsweise haben es erst die Universitätsabsolventinnen dahin gebracht, als Mütter ihren Kindern die Grundlagen ihres Sprechens erklären zu können. Das Mechanische bleibt zurück. Schreiben. Rechnen. Und Lesen als Ablesen.

Deutendes Lesen

Ich habe dieses "Ich kann mich an nichts erinnern" in Bezug auf Schulbildung zu oft und in so vielen Abwandlungen gehört. Es war erstaunt ausgesprochen worden. Vorwurfsvoll. Wütend. Gelangweilt. Immer aber war die Tatsache akzeptiert gewesen, dass eine Person ihre Sprache spricht, ohne deren Bauweise zu kennen und damit dem Gebrauch der Sprache im Sprechen auf die Spur kommen zu können.

Das wiederum wäre die Voraussetzung, sich das eigene Leben zu erzählen. Die Auswirkungen der Sprache und des Sprechens auf die eigene Wahrheit entschlüsseln zu können. Aber. Es ist so vorgesehen. Der kleine Mensch soll in den Grundlagen der wirtschaftlich notwendigen Kommunikation trainiert werden, aber nicht darüber hinaus nachdenken können.

Lesen als gläubiges Ablesen. Deutendes Lesen. Das war Privileg. Unsere Volksschule war von Beginn an Glaubenslehre. Kirchendomäne. Gegenstand jedes Konkordats. Päpstlich bestimmt. Mitgedacht. Und immer war die Erziehung von Monarchie und Kirche von dem Grundsatz geleitet: "Von der Sorgfalt, die Privatkräfte gegen die Kräfte des Staates in einem untergeordneten Ebenmaße zu halten."

Wenn jetzt gerade in den USA die Frage gestellt wird, ob eine Institution wie die Polizei reformiert werden kann. Oder. Ob die brutal-rassistische Entstehungsgeschichte, zu tief in die Kultur dieser Institution eingelassen, ihre Wirkung immer weiter entfalten wird. Wenn also nur die Abschaffung der Institution eine Befreiung aus dieser brutal-rassistischen Kultur erlaubt, dann sollten wir diese strukturelle Kritik einmal auch an unsere eigenen Institutionen stellen.

Die Volksschule zum Beispiel

Die Volksschule zum Beispiel. Und natürlich. Auch bei uns sollten Denkmäler fallen. Als Erstes das Weinheber-Denkmal auf dem Schillerplatz. Und Weinheber und alle anderen Nazis sollten nicht mit immer noch bestehenden Denkmälern gefeiert werden dürfen. Sie sind Vertreter jener Selbstversklavung in der inneren Welt von Menschen, die die autoritäre Persönlichkeit grundiert. Sie wollten die Privatkräfte den Kräften des autoritären Staats total untergeordnet wissen.

Von Weinheber kann gesagt werden, dass er sich auch nicht mehr erinnern konnte, wie Aktivum und Passivum eine Entsprechung in der Wirklichkeit in Töten und Getötetwerden findet. Denn darum ginge es ja bei der Satzanalyse. Was wird wie in Sprache gefasst zu welcher Wirklichkeit. Welche Funktionen haben grammatikalische Formen. Was wird in Befehlsform gefasst, wie gelebt werden müssen.

Wenn nun aber die Regierung Kurz die Notengebung in den ersten Klassen der Volksschule zurückeinführte. Wenn nun keine Rückkehr zu der ein bisschen offeneren Pädagogik der letzten Jahrzehnte vorgesehen ist. Nicht an einer Verbesserung im Pädagogischen weitergearbeitet werden soll. – Und verlangen die Grünen das überhaupt? – Wenn die mühselige Arbeit des Umbaus der Volksschule von einem Erziehungsinstitut in eine Bildungsinstitution jäh abgebrochen bleibt. Und damit die Erinnerungslosigkeit autoritären Denkens und Fühlens weiter unterrichtet ist.

Herrschaft und Heteronorm

Wenn unter dem Motto, diese Kinder müssten doch durch Noten bewiesen wissen, wo sie stünden. Wenn also wörtlich Ständisches zurückgeholt wird. Wenn so die cisleithanische Kirchenpolitik der Monarchie und im Austrofaschismus zurückgeholt wird, nach der jeder Mann einen gottgewollten, unveränderbaren Platz einnimmt. Und jede Frau sich diesem gottgewollten, unveränderbaren Platz des Hausvaters nachordnen musste. Gottgewollt und in der untrennbaren, cisleithanischen unauflöslichen wiederum gottgewollt unveränderbaren Ehe auf Lebenszeit.

Die Herrschaft über die Leben in Form der unauflöslichen Ehe. Herrschaft mittels Heteronormativität. Diese Herrschaft bildet ja den Kern der innenpolitischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Familienrechtsreformen der 1970erJahre. Und. Kulturell ist diese Herrschaft in der Gesellschaft weiter aufrecht. Sie wird im Regierungsprogramm der ÖVP/FPÖ nachdrücklich wieder eingesetzt. Und. Dieses Regierungsprogramm ist weiterhin gültig.

Eine solche Herrschaft muss kulturell begründet sein. Die Vorstellung, was eine Person sein soll, muss für eine solche Herrschaft passend definiert werden. Dafür hat in Cisleithanien die Erziehung zum Bürger gegenüber einer Bildung der Person gesiegt. Bis heute. Das neoliberale Sparkonzept der Ausbildung statt der Bildung heute bildet da mit den philanthropinistischen Vorstellungen der hiesigen Aufklärung damals eine Kette.

Das Ziel der Beschränkung der Person auf die staatlich-wirtschaftlichen Anforderungen aus dem 18. Jahrhundert ist bis heute aufrecht. Die katholische Kirche bettete dieses Ziel ins Metaphysische. Postkatholischerweise ist es dabei geblieben.

Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz mit Blick ins Freie: "Hausaufgaben sind ein Regierungsinstrument."
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Erziehung der anderen

"Aber DIE müssen DENEN Angst machen, damit DIE das alles befolgen", sagt der Mann im Biogeschäft. Es war Lockdown. Gemeint war die Regierung, die mit Angstmache die Erziehung der anderen betreiben müsste. In der Art eines Glaubenszwangs identifizierte sich dieser Mann mit der Regierung, um auf die anderen herunterschauen zu können, damit alles seinen richtigen Gang haben kann.

Das ist der erste Schritt in den Rassismus. Aber. Schon im Schulaufsatz hat dieser Mann gelernt. Und in allen Texten, die von Anfang an vorgelegt werden, ist das so. Wir müssen in der Schule lernen, uns aus den Texten hinauszuschreiben. Das Ich wird im Lesen, Schreiben und Rechnen verlernt gemacht. Während der Zeit, in der das Kind sich selbst in der Welt kennenlernt. Ausprobiert. Erforscht.

Es wird eine Sprachebene eingezogen, in der das Ich des Kinds nicht vorkommen darf. Das eigene Leben. Über sich selbst sprechen. Das wird abtrainiert. Erziehung zum brauchbaren Staatsbürger war das. Ist das. Aber. Für eine Zeit, in der Selbstfürsorge und Selbstvorsorge die Grundlage des Lebens im Lebensarbeitszeitdurchrechnungszeitraum neoliberalerweise schaffen soll. Für eine solche Zeit ist diese Erziehung eine Gemeinheit.

Eine solche Erziehung versetzt die Person in keiner Weise in die Lage, diesen Anforderungen entsprechen zu können. Und schon gar nicht setzt eine solche Erziehung zum Nicht-Ich-Wissen-Können in die Lage, Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft entwickeln zu können. Eine solche Erziehung bedeutet im heutigen Kontext eine ununterbrochene Überforderung, wenn ein handlungsfähiges Ich vorausgesetzt wird und dieses Ich dauernd irgendwie substituiert werden muss, weil es ja früh wegerzogen worden ist. Dass es nicht da ist.

Zur Elite gehörig

Dieses denkende, selbstbestimmte Ich den grundlegenden Texten gegenüber. Dieses Verantwortung übernehmende Subjekt. Das lässt sich aus dem Beispiel im Biogeschäft ablesen. Der Mann kann in der Formulierung, in die er sich nicht hineindenken muss und ja auch gar nicht kann. Dieser Mann ist mit dem Besuch der Volksschule schon gezwungen worden, übersehen zu lernen, dass er selbstverständlich Teil der durch Angst manipulierten Bevölkerung ist.

Er glaubt, sich absetzen zu können und zu den Eliten zu gehören. Er borgt sich ein Ich aus der Vorstellung, zu den Eliten zählen zu können. Die Wahrheit ist, dass er der Politik unterliegt und nichts daran ändern kann. Er kommt genauso nicht vor wie DIE anderen. Das ist der Vorteil des Nicht-Ich-Lesen-Lernens. Jeder und jede wird zum ich-losen, gesichtslosen Bestandteil der Massen gemacht. Den Eliten zur Disposition. Materie statt lebendige Personen.

Aber. Wenn die Mütter am Fußballfeld die Hausaufgaben ihrer Kinder nicht verstehen. Wenn der Mann im Biogeschäft sich mit der Obrigkeit identifiziert. Sie alle haben ihre Hausaufgaben im Systemischen richtig gemacht. Sie haben sich selbst ausgeschlossen. Sie haben selbst die Arbeit ihrer Beschränkung übernommen und erledigt.

Der Mann im Biogeschäft vertritt die Interessen der Eliten und verrät seine eigenen. Die Mütter müssen ihren Kindern gegenüber ihre Ohnmacht eingestehen. Die Kinder werden die Hausaufgaben nicht erledigt haben. Die Hausaufgaben werden zur Bedrohung.

Das Familienleben ordnet sich um diese Frage. Die Schule. Der Staat. Über die Hausaufgaben wird ins Private hineinregiert. Und. Am Ende so eines Schuljahrs. Mit den Noten. Jeder und jede weiß, wohin er oder sie gehört. Die ganze Familie wird in diesen Noten beschrieben.

Brisanz durch Corona

Die Hausaufgaben sind in der Notengebung ein Regierungsinstrument. Nicht nur der Schultag soll in die vollkommen sinnlosen 50 Minutenportionen zerschnitten sein. Auch die Freizeit muss besetzt bleiben. Arbeitsweltliche Disziplinierung ist das. Vertiefung des Wissens wird das genannt. Auslieferung an die gottgewollten und unveränderbaren Umstände könnten wir das nennen.

Wieder wird über die Eltern festgelegt, wo das Kind dann mit den Noten stehen wird. Wer kann das Kind unterstützen? Wer nicht? Wer hat Zeit? Wer kann das nicht? Mit den Noten stellt der Staat sich mitten in die Familie hinein. Und. Der Staat spiegelt die gottgewollte Unveränderbarkeit des Stands an die Familie zurück. "Es sind doch nur Noten", sagt die Frau bei der Diskussion nach der Lesung. "Das haben wir doch alle durchgemacht."

Die Frage der Hausaufgaben. Sie hat durch die Corona-Krise eine besondere Brisanz bekommen. So, wie es hierzulande selbstverständlich ist, über die Freizeit von Schülern und Schülerinnen zu verfügen. So wird das Homeoffice behandelt werden. Und wieder wird sich auswirken, wie diese Verfügung über die Person in den frühen Phasen der Schulzeit gehandhabt worden ist.

Wir haben da nicht nur gelernt, dass wir in Texten als Person nicht vorkommen. Wir haben auch gelernt, dass unsere Zeit der Schule gehört. Dass die Schule unsere Zeit zerteilt. Dass die Schule uns 15 Minuten für das Essen einräumt. Dass wir besser nur in den Pausen aufs Klo gehen sollten. Dass wir uns nur zu Wort melden sollen, wenn wir etwas wissen, und nicht die Zeit des Unterrichts mit dummen Fragen verschwenden sollen. Dass unser Widerstand aber über Fragen zu Stundenverkürzung führen kann. Viel Kraft und Erfindungsgeist musste auf das Erträglichmachen des Regimes aufgewendet werden.

Vor- und Nachdenkerin Streeruwitz: "Im Homeoffice wird am Ende nur das Ergebnis bezahlt werden. Das Produkt dieser Heimarbeit."
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Wie wird diese schulische Kultur uns behindern, wenn es um das Homeoffice gehen wird. Wenn die Verantwortung der Zeiteinteilung und des Kraftaufwands an die Person übergeben wird. Hierorts. Wir sind Personen, die daran gewöhnt wurden, regiert zu werden. Wir sind Personen, denen die Zeit eingeteilt worden war. Denen die Hausaufgaben zugeteilt worden sind. Und. Die für die Erledigung dieser Hausaufgaben beurteilt wurden.

Weil das Kind zu einem brauchbaren Staatsbürger erzogen werden sollte. Weil die Normen der frühen Industrialisierung für die Organisation der Schule ausschlaggebend gewesen waren. Weil die Schulen zu Beginn in den Händen der katholischen Kirche lagen. Weil die Schulen die Erziehung zum Soldaten zum Vorbild hatten. Weil es sich um eine Militarisierung der Leben handelte, die gar nicht so undeutlich immer noch zu erkennen ist.

Nur das Ergebnis wird bezahlt

Deshalb wird das Homeoffice zur Wiederauflage der Protoindustrialisierung werden. Hierzulande. Es wird am Ende nur das Ergebnis bezahlt werden. Das Produkt dieser Heimarbeit. So wie das mit den Hausaufgaben gelernt worden war, wird "Die Wirtschaft" dazu übergehen, nur das jeweilige Ergebnis zu bezahlen. Faktoren wie Arbeitszeit. Gesundheit. Sicherheit am Arbeitsplatz. Besteuerung. Urlaub. Freizeit. Kinderbetreuung. Sorgearbeit. Selbst die neoliberalerweise so geschätzte Work-Life-Balance wird aus dem Gleichgewicht geraten.

Es wird der einzelnen Person überlassen werden, wie sie zu dem verlangten und zu bezahlenden Ergebnis kommen wird. Die schon gegebenen Umstände der Person werden einmal mehr festgeschrieben und bestimmen ihren Wert. Der gottgewollte Platz des Ständischen. Die gewollte soziale Immobilität des Kirchlichen. Die Fesselung in den Zufall der Geburt des Nationalistischen. Mit einem deregulierten Homeoffice als Normalfall des Arbeitsplatzes.

Wir sind zurück auf Punkt eins cisleithanischer Frühaufklärung. Und die Predigten des Kanzlers werden das in erprobter Weise als naturhaftes Ereignis einer nicht mehr erwähnt werden müssenden Vorsehung vermitteln. Der Kanzler selbst kommt ja in seinen Texten nicht vor. Er hat den Pluralis Majestatis als Ich-Krücke zur Erfüllung seiner Sendung zu Verfügung.

"Wenn also durch die Lehren der Religion, durch die Erziehung und Wissenschaften die Sitten der Jugend gebildet und ihre Neigungen dem Endzwecke des Staates gemäß geleitet werden: So ist außer Zweifel, dass sich die Folgen dieser Sorgfalt an den erwachsenen Bürgern offenbaren werden."

Nein, es ist nicht zu spät

Das war 1786. Und nein. Es ist nicht zu spät. Für Umsturz. Das Umstürzen von Denkmälern wäre ein Zeichen dafür. Die Befreiung vom Denkmal Weinhebers auf dem Schillerplatz wäre ein Zeichen für die Emanzipation von den Sinneinheiten des Autoritären in unserer Geschichte. In unserer Bildungsgeschichte.

Ein Anfang könnte das sein. Ein Anfang für die Eroberung eines sich selbst denken könnenden Ichs. Es geht ja nur um diesen einen kleinen Schritt vom Ablesen zum Selber-Lesen des Texts. Aber was für ein Perspektivenwechsel täte sich auf.

Und es ist allerhöchste Zeit. Staat und Wirtschaft sind durch die Corona-Krise andere geworden. Aus der bisherigen Logik der Staatsführung hierzulande müssen wir davon ausgehen, dass sich eine weitere Verstaatlichung des Persönlichen anbahnt. Hygienestaat und die wirtschaftliche Vereinzelung in Heimarbeit. Im Grund handelt es sich um eine Neuverhandlung des Gewaltmonopols des Staats den Bürgern und Bürgerinnen gegenüber.

Das aber könnte wiederum von den Bürgern und Bürgerinnen zum Sturz jener Denkmäler genutzt werden, die dem Demo kratischen entgegenstehen. Was die meisten Denkmäler und Institutionen tun. Immer noch. Und weiterhin. (Marlene Streeruwitz, 20.6.2020)

Von Marlene Streeruwitz sind zuletzt folgende Bücher im S.-Fischer-Verlag erschienen:

"Nachkommen" (2014)
"Poetik. Tübinger und Frankfurter Vorlesungen" (2014)
"Yseut" (2016)
"Flammenwand" (2019)