Der Job des Telefondienstleisters bietet gute Voraussetzungen, um noch stärker automatisiert zu werden.

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Als der philippinische Präsident Rodrigo Duterte im März den Lockdown verhängte und die dichtbesiedelte Insel Luzon mit der Hauptstadt Manila unter Quarantäne stellte, ging nicht nur bei den Bewohnern die Angst um, sondern auch in den Vorstandsetagen von Konzernen. Der Inselstaat ist so etwas wie der Außenposten westlicher Dienstleistungsgesellschaften. Rund 1,3 Millionen Filipinos arbeiten bei Telefondienstleistern.

Wenn ein US-Amerikaner, Australier oder Neuseeländer wegen einer Reklamation oder Nachfrage eine Hotline wählt, landet er am Ende meist in einem Callcenter auf den Philippinen. JPMorgan, Amazon, Google, Facebook – fast alle großen Konzerne haben Kundenhotlines auf die Philippinen ausgelagert. Die Arbeitskosten sind niedrig, und Filipinos sprechen flüssiges Englisch mit einem für amerikanische Ohren neutralen Akzent – im Gegensatz zu Indern. Ein Grund, weshalb Indien in den letzten Jahren 70 Prozent des Geschäfts an die Philippinen verloren hat. Das Callcenter-Business macht Schätzungen zufolge zwischen acht bis zehn Prozent des philippinischen Bruttoinlandsprodukts aus.

Doch als die Telefonisten aufgrund der Ausgangssperren ihre Häuser nicht mehr verlassen durften, brach Chaos in der Branche aus. Einige Callcenter mussten schließen, andere schickten ihren Mitarbeitern eilig Computerausrüstung nach Hause, um den Betrieb im Homeoffice zumindest ansatzweise am Laufen zu halten. In ihrer Verzweiflung übernachteten manche Angestellten sogar in den Zentralen, um ihre Jobs nicht zu verlieren.

Chaos an Hotlines

Die Ausfälle waren überall zu spüren. Die Warteschleifen verzögerten sich um ein Vielfaches, für manche Kunden gab es kein Durchkommen. In amerikanischen Telefonzentralen glühten zeitweise die Drähte. Airlines, die wegen der Reisewarnungen Flüge stornieren mussten, baten Kunden sogar ausdrücklich, nicht bei der Hotline anzurufen.

Um die Abhängigkeit von menschlichen Arbeitskräften zu verringern, setzen Konzerne in der Krise verstärkt auf künstliche Intelligenz. So hat Google vor wenigen Wochen einen sogenannten Dialogflow-Agenten präsentiert, der Unterhaltungen mit Endnutzern abwickeln soll. Der virtuelle Agent soll in der Lage sein, Fragen zu Covid-19 via Chat, Telefongespräch oder Social Media zu beantworten.

"Entlasten Sie Ihre Kundenservicemitarbeiter durch automatisierte Telefonantworten auf häufige Kundenfragen, damit sie sich auf kompliziertere Fälle konzentrieren können", heißt es auf der Website. Google bietet mit seinem Contact Center AI bereits eine Schnittstelle für Sprachausgabe an. Die Open-Source-Vorlage wurde mit einem auf Corona zugeschnittenen Fragekatalog aktualisiert, den Kunden nach ihren Vorgaben konfigurieren können. Gleichzeitig hat Google seine Telefon-KI Duplex nach Großbritannien, Australien und Kanada expandiert. Mit dem Tool kann man beispielsweise einen Tisch im Restaurant reservieren oder Kinotickets bestellen. Das Besondere: Die KI hört sich am Telefon wie ein Mensch an.

KI-Systeme werden menschlicher

Der virtuelle Assistent ist so programmiert, dass er Verlegenheitslaute wie "ähm" oder "hm" in das Gespräch einstreut und Kunstpausen (besser gesagt künstliche Pausen) einlegt. Auch wenn alles vom Band kommt – die Sprachcomputer klingen nicht mehr wie synthetische Stimmen, sondern wie ein menschlicher Sprecher. Viele empfanden das als unheimlich. Doch die Corona-Krise könnte der Technologie zum Durchbruch verhelfen. "Verlieren Callcenter-Mitarbeiter ihre Stimme an die KI?", fragte kürzlich die Financial Times.

Viele Telefondienstmitarbeiter führen ohnehin schon wie Roboter mechanisch Skripte aus. Fragt der Kunde das, antworte ich das. Meist sind es Standardisierte Anfragen, die die Kundencenter erreichen – sie lassen sich nach Schema F mit einem Baukastensatz an Phrasen beantworten. Das heißt, der Job des Telefondienstleisters bietet die besten Voraussetzungen, um automatisiert zu werden. Die Frage ist nur, was mit den Millionen Callcenter-Mitarbeitern passiert, wenn künftig KI-Systeme ihre Jobs übernehmen. Werden sie gänzlich überflüssig? Oder werden sie zu Zuarbeitern, die Maschinen mit Daten trainieren?

Ökonomen beobachten schon seit Jahren eine Polarisierung am Arbeitsmarkt. Vor allem Routinejobs, die leichter zu automatisieren sind (etwa Sekretäre oder Rechtsanwaltsgehilfen) und während der letzten Rezessionen verschwanden, kehrten nach der Krise nicht wieder zurück. Die Corona-Krise könnte den technologischen Wandel abermals beschleunigen und den Druck auf den unteren Lohnsektor bzw. Geringqualifizierte verstärken. Zwar hat Amazon 100.000 neue Mitarbeiter in seinen Logistikzentren eingestellt. Doch je besser Algorithmen in der Sprachanalyse und Objekterkennung werden, desto teurer wird die menschliche Arbeitskraft. Gut möglich, dass man bald nicht mehr einen Menschen, der wie eine Maschine klingt, am Hörer hat, sondern eine Maschine, die wie ein Mensch klingt. (Adrian Lobe, 20. 6. 2020)