Es ist nicht gerade der Inbegriff eines Wahlkampfschlagers: "Defund the police", hallt es bei den Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung durch die US-Straßen. Auch auf Plakaten ist die Forderung zu lesen, der Polizei Geld zu entziehen oder sie gar aufzulösen. US-Präsident Donald Trump, der für sein Verhalten bei den Protesten bisher wenig Zustimmung kassiert, wittert Morgenluft. Er weiß, dass die Forderung nicht populär ist und den Demokraten bei der Wahl im November schaden könnte.

Wieso aber sind so drastische Maßnahmen überhaupt nötig? Hintergrund ist einmal mehr die Art, wie die US-Polizei oft auftritt – nicht nur, aber vor allem gegenüber schwarzen Menschen: herrisch, immer wieder gewalttätig und oft mit sehr wenig Fingerspitzengefühl für lokale Zusammenhänge. Deswegen, weil Beamte oft nicht privat mit den Gegenden vertraut sind, in denen sie Dienst tun. Aber auch weil sie im Dienst eines Systems stehen, das Strafen oft harsch vergibt. Und weil dieses System nach rassistischen Kriterien unterscheidet, wem für welches Vergehen welche Sanktion droht – nicht per Gesetz, aber doch in der täglichen Praxis.

Schwarzer in Atlanta erschossen

Ein Beispielfall, einer von vielen, ist erst eine Woche alt. Polizisten erschossen den 27-jährigen Rayshard Brooks in Atlanta, nachdem sie sich zuvor fast eine halbe Stunde lang mit ihm unterhalten hatten. Brooks hatte versucht, sich durch Weglaufen seiner Festnahme wegen angeblich alkoholisierten Autofahrens zu entziehen und dabei einem Polizisten seinen Taser entrissen. Als der Betrunkene mit der nicht-tödlichen Waffe auf die Beamten schoss und diese verfehlte, zog Officer Garret Rolfe seine Dienstpistole und traf Brooks zweimal in den Rücken. Brooks starb am Weg ins Spital, Rolfe wurde wegen Mordes angeklagt.

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Nach der Tötung von Rayshard Brooks wurde in Atlanta gegen rassistische Polizeigewalt demonstriert – und mit einem Polizeiaufgebot auf die Proteste reagiert.
Foto: REUTERS/Elijah Nouvelage

Der Vorgang eröffnet mehrere Fragen: Wieso etwa halten es die Polizisten nach 30 Minuten höflicher Unterhaltung für nötig, Brooks in Handschellen abzuführen, statt ihm einfach seinen Führerschein oder die Autoschlüssel abzunehmen? Warum fehlt es ihnen an richtiger Situationsabschätzung im Umgang mit einem offensichtlich Betrunkenen? Aber auch: Wieso empfindet Brooks die Perspektive einer Verhaftung als so bedrohlich, dass er eine Konfrontation mit bewaffneten Polizisten riskiert? Und wieso fallen Reaktionen auf weiße Verdächtige oft ganz anders aus? Fragen, die zu drei entscheidenden Punkten führen: zur mangelhaften Ausbildung der Polizei, zu ihrer oft paramilitärischen Ausrüstung – aber auch zum Zustand der Justiz.

Die weiße Schauspielerin Krista Vernoff schildert ihre Erfahrungen mit der Polizei – die sich stark von den Erfahrungen schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner unterscheiden.

Gewalt ist oft die Lösung

Bei der Ausbildung mangelt es schon an der Länge. Laut einem Bericht des US-Justizministeriums dauerte sie zwischen 2011 und 2013 meist rund 21 Wochen, in manchen Bundesstaaten ist sie deutlich kürzer. Michael Slager absolvierte sein Polizeitraining 2010 in South Carolina, damals dauerte es nur neun Wochen. 2015 feuerte er in North Charleston die tödlichen Schüsse auf den Afroamerikaner Walter Scott ab. Dieser war wegen eines defekten Bremslichts angehalten worden und flüchtete unbewaffnet, weil er wegen unbezahlter Unterhaltszahlungen gesucht wurde.

Zum Vergleich: In Norwegen müssen angehende Polizistinnen und Polizisten drei Jahre Training absolvieren, seit 2002 gab es dort nur vier Tote bei Polizeieinsätzen. In Österreich dauert die Grundausbildung 24 Monate. Doch Untersuchungen zeigen, dass die konstant vielen Tötungsfälle bei Polizeieinsätzen in den USA (etwa 1000 pro Jahr) komplexe Ereignisse sind, die nicht nur durch einen bestimmten Faktor zu erklären sind. Dazu zählt der systemische Rassismus der Einsatzkräfte. Aber auch das fehlende Vertrauen der betroffenen Communities ist ein Faktor: Sie haben das Gefühl, in den mehrheitlich weißen Einsatzkräften nicht repräsentiert zu sein, auch, weil die Zahl der nicht-weißen Polizisten seit einigen Jahren wieder zurückgeht. Aber sie wissen ebenso, dass Beamte wegen des Korpsgeists für ihre eigenen Vergehen oft nicht bestraft werden. Und dann ist da noch der Waffenbesitz: Die USA weisen weltweit die höchste Konzentration von Schusswaffen in der Hand von Zivilisten auf (120,5 Schusswaffen per 100 Einwohner) – und wo viele Waffen in Umlauf sind, herrscht womöglich auch bei den Behörden mehr Angst davor, dass diese gegen sie eingesetzt werden.

Zum Töten konditioniert

Bei der Polizei werde zu oft auf Gewalt als generelles Mittel zur Problemlösung gesetzt statt als allerletzten Ausweg – so jedenfalls lautet die Kritik. Ein Name, der in diesem Zusammenhang oft fällt, ist Dave Grossman. "Killology" heißt das Konzept des Ex-Elitesoldaten. Seine vorrangig bei der Polizei gut gebuchten Kurse haben das Ziel, die Hemmung vor dem Töten zu nehmen. Obwohl er selbst nie jemanden im Einsatz getötet hat, zeigt er sich überzeugt: Mit der richtigen Vorbereitung sei Töten "keine große Sache", sondern sogar "befriedigend". Man solle sich deshalb nicht schlecht fühlen, sondern gut, wer jemand anderen töte, werde danach den besten Sex seines Lebens haben. Das eigene Leben sei nun mal mehr wert als eine Klage. Was Grossman damit indirekt sagt: Das Leben eines Polizisten ist damit mehr wert, als das jenes Menschen, von dem er sich bedroht fühlt.

The New Yorker

Jeronimo Yanez, jener Officer, der 2017 den Afroamerikaner Philando Castile bei einer Verkehrskontrolle erschoss, hatte unter anderem bei Grossman ein Training absolviert. Seither werden Grossmans Seminare seltener gebucht, in einer aktuellen Online-Petition wird dazu aufgerufen, dass er von keiner offiziellen Stelle mehr gebucht werden soll.

Nicht nur in solchen Seminaren, sondern auch bei der Ausrüstung setzt die US-Polizei auf Militarismus. Überschüssige Armeeausrüstung wird gratis an die Polizei abgegeben, seit im Jahr 2000 der National Defense Authorization Act in Kraft trat. Das "Programm 1033" zwang die Polizei, die Ausrüstung binnen eines Jahres zu verwenden, wenn sie sie behalten wollte. Dabei kann es sich um harmlose Gegenstände wie Aktenschränke, Handschuhe oder Ferngläser handeln. Aber auch um Granatwerfer oder Militärlastwägen, die sonst im Irak oder in Afghanistan zum Einsatz kommen. Die Polizei nahm dadurch ein zunehmend martialisches Aussehen an, als befände sie sich im Krieg – allerdings gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger.

Studien zeigen: Hat die Polizei mehr Panzerwagen, Maschinengewehre, Granatwerfer und ähnliches Gerät, greift sie auch eher zu Gewalt. Ex-Präsident Barack Obama hatte dem 1033-Programm einige Beschränkungen auferlegt, die sein Nachfolger Donald Trump später aber wieder aufhob. Mehrere Senatoren sprachen sich aufgrund der aktuellen Proteste für die vollständige Beendigung des Programms aus.

Psychisch Kranke erschossen

Was könnte man aber abgesehen von Demilitarisierung anders machen? Konkret meint die Forderung "Defund the police" das Geld, mit dem die Polizei finanziert wird, anderswo einzusetzen. Sollen wirklich bewaffnete Polizisten gerufen werden, wenn jemand mit einer betrunkenen, obdachlosen oder psychisch labilen Person überfordert ist? 2019 war einer von fünf durch Polizeigewalt getöteten Menschen psychisch krank. Der Einsatz von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern könnte Leben retten.

Die Polizeigewalt in den USA trifft besonders oft Schwarze – das hat viele strukturelle Gründe. Forderungen nach grundsätzlichen Reformen nehmen zu.
Foto: Eric BARADAT / AFP / APA

Das sogenannte "community policing" geht in diese Richtung. Um gesellschaftliche Probleme zu lösen, arbeiten die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde mit der örtlichen Polizei zusammen. Einige Dienststellen setzten zudem auf Kriseninterventionsteams. Studien zeigen, dass dort, wo mehr gemeinnützige Organisationen aktiv sind, weniger Verbrechen registriert werden.

Positivbeispiel Camden?

In Minneapolis, wo der Afroamerikaner George Floyd von Polizisten getötet wurde, beschloss der Stadtrat vor knapp zwei Wochen, die Polizeiarbeit völlig neu zu organisieren und ein "neues Modell der öffentlichen Sicherheit" zu schaffen. Details stehen noch aus, doch ein Beispiel wäre etwa Camden in New Jersey: Die Stadt, deren Mordrate einst so hoch wie in Honduras war, löste 2013 die städtische Polizei komplett auf und ersetzte sie durch eine neue Behörde auf Kreisebene. Die Zahl der Morde sank von 67 im Jahr 2012 auf 15 im vergangenen Jahr. Zwischen 2014 und 2019 halbierten sich die Zahlen der jährlichen Einbrüche sowie der jährlichen Raubüberfälle. Seit 2014 sind zudem die Beschwerden über unangemessene Gewaltanwendung um 95 Prozent zurückgegangen. Der Pressesprecher der Stadt sagt, Polizisten würden mithilfe von Videos und einem Verhaltenskodex geschult, in gefährlichen Situationen deeskalierend zu handeln.

Zugleich nahm laut einer 2015 veröffentlichten Datensammlung der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) die Verfolgung kleinster Vergehen zu. Die gerichtlichen Vorladungen etwa wegen Fahrradfahrens ohne Licht oder Klingel stiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 3 auf 339. Vorladungen wegen verdunkelter Autofensterscheiben stiegen von 197 auf 948. Die Bevölkerung beklagt zudem eine verstärkte Polizeipräsenz und dass die Einsatzkräfte teils von außerhalb kamen und sich in der Umgebung nicht auskannten. Und dass der Anteil weißer Polizisten zunahm.

Großer Reformbedarf auch in Justiz

Bei der Kriminalitätsrate wurden also Erfolge erzielt – und trotzdem kann Camden nur zum Teil als Positivbeispiel dienen. Ist das Problem eines im größeren System? Darauf deutet ein Blick auf die Justiz hin. Auch dort ist der Reformbedarf groß.

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Die Rufe nach radikalen Reformen bei Polizei und Justiz werden bei den Demonstrationen in den USA lauter.
Foto: REUTERS/Terray Sylvester

Schwarze Menschen werden laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2017 für die gleichen Vergehen oder Verbrechen im Schnitt zu 20 Prozent längeren Haftstrafen verurteilt. Dazu kommen ungleiche gesetzliche Grundlagen. Eines der bekanntesten Beispiele sind die Strafen für Konsum und Verkauf von Crack und Heroin, die in Wirkung und Schädlichkeit sehr ähnlich sind – wobei jene für Crack, das häufiger von Schwarzen missbraucht wird, deutlich höher liegen als die für Heroin.

Zur hohen Rate tragen aber auch Haftgründe bei, die besonders bei wirtschaftlich schlechtergestellten Gruppen zutreffen, etwa Verzug bei der Bezahlung von Strafmandaten. Afroamerikaner landen häufiger erstmals im Gefängnis. Sie geraten so in den Kreislauf von Justizsystem und Kriminalität. Und wer einmal in Haft war, für den steigt statistisch die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung massiv. Wer dreimal erwischt wird, landet überhaupt oft lebenslang in Haft: 28 US-Bundesstaaten haben sogenannte "Three-Strikes-Laws", die im Fall einer dritten Verurteilung lebenslange Haft vorschreiben.

Unpopulär bei der Bevölkerung

So gesellt sich trotz jüngster Reformen zur Forderung nach Geldentzug für die Polizei oft noch jene nach einem Radikalumbau der Justiz hinzu. Doch bei aller offensichtlichen Notwendigkeit: "Defund the Police" ist in den USA nicht populär. Nur 34 Prozent sind nach einer Umfrage des TV-Senders ABC von vergangener Woche dafür, 64 Prozent sind explizit dagegen. Sollte die Forderung im kommenden Präsidentschaftswahlkampf also eine Rolle spielen, so wird sie für die Demokraten und deren vermutlichen Fahnenträger Joe Biden kein Gewinnbringer sein. Dieser hat die Forderung sogar bereits zurückgewiesen. An die Justizreformen der 1990er, die etwa zu den Three-Strikes-Laws führten, will er wohl auch ungern erinnern – daran, dass die Situation so ist, wie sie ist, hat er schließlich gewichtigen Anteil. Er kämpfte damals für Härte in Polizei und Justiz.

Ist der Elan, der sich nun mit den Forderungen verbindet, also vergeudete Mühe? Das ist nicht so sicher. Denn schlüsselt man die Ziele genauer auf, findet sich für vieles doch wieder eine Mehrheit: 59 Prozent aller Befragten waren etwa in einer anderen Erhebung für "Politico" der Ansicht, die Polizei brauche "eine vollständige Neuaufstellung" (22 Prozent) oder "massive Reformen (37 Prozent). Dazu kommt: Die Arbeit der örtlichen Sicherheitsbehörden wird in den USA nicht zentral gesteuert. Das hat sich in der aktuellen Situation als Nachteil erwiesen, weil die Bundesregierung, auch wenn sie wollte, kaum Reformen beschließen könnte. Aber nicht nur: Denn es gibt Politikerinnen und Politikern die Möglichkeit, schneller zu sein als Washington – und zu beweisen, dass eine faire Gesellschaft keine militärisch hochgerüstete Polizei braucht. (Noura Maan, Manuel Escher, 21.6.2020)