Das Cover der deutschsprachigen Ausgabe.
Foto: Cross Cult

(Anmerkung: Diese Rezension orientierte sich noch an der englischsprachigen Originalausgabe, mittlerweile gibt es den Roman aber auch auf Deutsch.)

Das ist möglicherweise der richtige Roman für diejenigen, denen die Prämisse von Jeff Vandermeers "Southern Reach"-Trilogie (besser bekannt unter "Annihilation") zugesagt hat, die Erzählweise aber zu enigmatisch war. Auch in Tim Lebbons "Eden" wagt sich ein kleines Grüppchen in eine auf den ersten Blick idyllisch wirkende Wildnis vor, die sich aber auf subtile Weise vom Menschen wegentwickelt hat. Als würde hier bereits eine Ära nach dem Anthropozän vorbereitet.

Lebbons Erzählung ist gewissermaßen VanderMeer light: zugänglicher, aber immer noch kein simpler Schocker. Der britische Autor ist seit fast einem Vierteljahrhundert im Geschäft. Und auch wenn von seinen zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten nur sehr wenig ins Deutsche übersetzt wurde, dürfte der eine oder andere hier Lebbon zumindest über dessen Tie-in-Werke kennen. Er hat unter anderem Bücher für das "Star Wars"- und das "Alien"-Franchise sowie die Romanfassungen der Horrorfilme "The Cabin in the Woods" oder "30 Days of Night" geschrieben. Umgekehrt basiert der Film "The Silence" auf einem Roman, den Lebbon 2015 veröffentlichte. Begeben wir uns also vertrauensvoll in die Hände eines Profis.

Die Ausgangslage

Jahreszahlen werden keine genannt, aber wir müssen uns zumindest ein halbes Jahrhundert in der Zukunft befinden. Denn 50 Jahre vor der Romangegenwart wurden durch ein internationales Abkommen die Virgin Zones eingerichtet: 13 riesige, über den ganzen Globus verteilte Gebiete, aus denen der Mensch abgezogen ist, um die Natur sich selbst zu überlassen. Gedacht war es als Versuch, Pflanzen- und Tierwelt Rückzugsgebiete einzuräumen, aus denen sie sich eines Tages wieder ausbreiten können, wenn die Welt ringsum ökologisch vor die Hunde gegangen ist.

Mit den Zeds (der Zone Protection Force) wurde eine paramilitärische Organisation geschaffen, die das Betreten dieser Zonen verhindern soll. Und das ist auch nötig. Denn wie uns diverse Nachrichtenauszüge und Experten-Statements zeigen, die den Kapiteln vorangestellt sind, locken die Zonen alle möglichen illegalen Aktivitäten an. Die harmloseste davon sind noch die Adventure Races: Grüppchen von Abenteurern versuchen ohne Hilfe von GPS oder sonstiger Technologie eine Zone nach der anderen zu Fuß zu durchqueren, um sie anschließend auf ihrer Liste abhaken zu können. Den inneren Widerspruch dieses neuen Extremsports illustrieren die Romanprotagonisten sehr schön: Buchstäblich laufend bestätigen sie einander, wie sehr sie die Natur schätzen, während sie darauf bedacht sind, möglichst schnell von einem Ende dieser Natur zum anderen zu kommen.

Das Cover der Originalausgabe.
Foto: Titan Books

Die Läufer

Ziel des Abenteuerlaufs, auf den uns Lebbon hier mitnimmt, ist Eden, ein 100.000 Quadratmeilen großes Waldgebiet, das sich vermutlich im Süden der USA befindet. (Schließe ich zumindest aus der Tierwelt, die ist nordamerikanisch mit ein paar südamerikanischen Einsprengseln, was dem fortgeschrittenen Klimawandel geschuldet sein könnte.) Expeditionsleiter ist der 50-jährige Dylan, die eigentliche Hauptfigur aber dessen Tochter Jenn. Die zwei bilden den Kern eines siebenköpfigen Teams, in dem jeder schon mehrere Touren absolviert hat – entsprechend groß ist die (fatale) Zuversicht, auch Eden bewältigen zu können.

Missstimmung kommt im Team auf, als Jenn erst mit Verspätung bekennt, dass sie nicht allein aus Spaß an der Freud an der Expedition teilnimmt. Sie hält Ausschau nach ihrer Mutter Kat – einer Veteranin der Abenteurer-Community, die vermutlich in Eden verschwunden ist. (Was wir Leser bereits wissen: Im Prolog erleben wir mit, wie Kat in paradiesischer Umgebung dem Tod ins Auge blickt.) Und wie sich zeigt, haben auch andere Teilnehmer ihre persönlichen Traumata mitgebracht.

Das Innere und das Äußere

Es ist also die klassische Mischung aus inneren und äußeren Unruhefaktoren, die den Grusel ausmacht. In guter alter Horror-Tradition dient die Natur als Projektionsfläche für Vorstellungen und Ängste, jeder äußere Eindruck wird durch ein begleitendes "feels like ..." gefiltert. Anfangs sind diese Eindrücke noch durchweg positiv: Die Läufer schwelgen in der Schönheit von Blütenmeeren und Vogelschwärmen. Doch mehr und mehr mischt sich das Gefühl darunter, dass hier etwas nicht stimmt.

Die Natur verhält sich auf subtile Weise anders, als sie "sollte", und bringt eine aus dem Team auf den Gedanken, dass die Zonen vielleicht gar kein Blick in die idyllische Vergangenheit sein könnten, sondern einer in die Zukunft. Ähnliches geht Dylan durch den Kopf, als er die überwucherten Reste aufgegebener Siedlungen betrachtet: Fifty years, Dylan thought. That's all it takes to erase humanity.

Die News-Splitter, die jedem Kapitel vorangestellt sind, tun das ihre, das Gefühl einer ominösen Gefahr zu bestätigen. Die ersten sind noch von dem Optimismus geprägt, mit dem das Projekt Virgin Zones einst gestartet wurde. Dann werden kritische Stimmen laut ("But you can't become a virgin."), und bald lernen wir auch die Schattenseiten des Projekts kennen: Zwangsumsiedlungen, Gewaltausübung durch die Zeds ... und schließlich auch Berichte, dass sich am Rand der Zonen seltsame Dinge ereignen. Und was auch immer sich da tut, unsere Abenteurer laufen mitten hinein.

Ansprechender Öko-Horror

"Stalker" mit höherem Body-Count habe ich auf meinem Notizzettel gefunden und weiß jetzt nicht mehr, ob das ein Zitat aus eine anderen Rezension war oder ob es mir selbst eingefallen ist. Spielt aber auch keine Rolle, denn Bezüge kommen einem hier viele in den Sinn: vom schon erwähnten Jeff VanderMeer über Scott Smiths "The Ruins" bis zu Öko-Horrorfilmen der 70er Jahre wie "Long Weekend" oder "Panik in der Sierra Nova". All das mag den filmaffinen Tim Lebbon beeinflusst haben.

Ansprechend erzählter Öko-Horror, das ist auch "Eden". Einziges Manko: Einen Twist, einen Knalleffekt oder irgendeine Art von Schlusspointe, die das Ende ein bisschen spektakulärer gestaltet hätte, vermisse ich. Dass sich Lebbon in diesem Roman insgesamt etwas zurückgehalten hat, ist andererseits aber auch eine angenehme Abwechslung. Muss ja nicht gleich aus jedem Busch ein zähnefletschender Zombiegrizzly gesprungen kommen – man unterschätze das subtile Grauen nicht, das in einem schlichten Satz wie "Something else uses her face to smile" steckt.