Keinen Karriereboost für einen Literaturneuling, aber eine späte Wiederentdeckung bedeutet der heurige Bachmannpreis für Helga Schubert. Sie verzückte neben der Jury auch zahlreiche Zuschauer auf Twitter.

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Der Literaturwettbewerb wurde heuer coronabedingt digital abgehalten.

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Oft schreibt doch das Leben die besten Geschichten. Eine solche ist der Sieg von Helga Schubert beim diesjährigen Bachmannpreis. Nicht nur gerechtfertigt, sondern darüber hinaus eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit ist er obendrein. Denn schon 1980 hätte die älteste Starterin im Autorenfeld in Klagenfurt teilnehmen sollen, durfte aber nicht aus der DDR ausreisen. Nun blickte sie in ihrem Text Vom Aufstehen 80-jährig auf das eigene Leben, die Beziehung zur oft harten Mutter und den inzwischen pflegebedürftigen Mann. Sehr persönlich, allerdings nie sentimental. Auf Twitter war sie damit nicht nur sofort sehr beliebt, sondern auch schnell eine Favoritin für den Hauptpreis (25.000 Euro). Insofern ist der Bachmannpreis ja schon lange "digital", weil viele nicht erst seit heuer Twitter parallel dazu aufgeschlagen haben.

Dass sie wegen des Coronavirus nicht nach Klagenfurt kommen durfte, sondern die auf Zuspielungen und Videochats basierende Austragung von zu Hause aus bestreiten konnte, bedauert die von Jurorin Insa Wilke Nominierte nicht. Es sei eine "schutzengelmäßige Schicksalswendung" gewesen, da sie ihren Mann pflege.

Das war noch einmal so ein Bezug auf schwierige Lebenswelten und Gesellschaftsfragen, die dieser 44. Jahrgang der Tage der deutschsprachigen Literatur in vielen Texten aufwies, und die in den letzten Monaten oft ins Hintertreffen geraten sind. An den Klimawandel wird seit Corona etwa wenig gedacht. Soziale Ungleichheit war während der Viruskrise eine große Nummer, jetzt, da die Zeit der dankenden Worte vorbei ist, fehlen aber Taten. Glück im Unglück, dass die Pandemie uns erst nach der Einreichfrist der Bewerbstexte erreicht hat. So konnten viele Autoren solche Zivilisationsbaustellen anpacken.

Gut gemeint und oft auch gut

Das kam zwar nicht immer gut an, war aber zumindest gut gemeint. Wenig betroffen machte die Jury etwa am letzten Lesetag Lydia Haiders von Nora Gomringer eingeladener, brutaler, mit ältlich klingenden Vokabeln und krummen syntaktischen Strukturen arbeitender Text Der große Gruß, der seinen Ausgang in der Rache an einem Hund nimmt, der ein Kind angefallen hat, und sich zur Allegorie auf die Gewalt rechter Gruppen steigerte. Kaum überraschend erhielt die in der Burschenschaft Hysteria engagierte Haider den per Voting vergebenen BKS-Publikumspreis (7000 Euro).

Überraschender ging der Kelag-Preis (10.000 Euro) verdient an den Grazer Egon Christian Leitner für Immer im Krieg über soziale Ungleichheit und marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Ein vierter Band seines Sozialstaatsromans mit über 700 Seiten soll im Herbst folgen. Selbst Klaus Kastberger, der Leitner aufgrund seiner radikalen Geste eingeladen hatte, war "überrascht", dass in Klagenfurt mittlerweile solche Texte Preischancen haben. Kastbergers andere Autorin, die Deutsche Lisa Krusche, machte mit Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere über Transhumanismus und Bots den zweiten Platz (12.500 Euro).

Sie schien der Pechvogel des Tages: Von Anfang an unter den Favoriten, dann aber in den Stichwahlen oft unterlegen, errang die Salzburgerin Laura Freudenthaler schließlich den 3sat-Preis (7500 Euro). Der heißeste Sommer handelt dräuend von der Zerstörung der Umwelt und wie jene auf den Menschen zurückfällt. Von der Jury weit ins Mythologische ausgreifend interpretiert, war der Text auch aus naheliegendem Grund gut: Gut möglich, dass es in manch agrarischer Gemeinde tatsächlich wie beschrieben zugeht.

Kriterienkatalog dargelegt

Der "digitale" Bewerb soll so teuer wie sonst, bloß technisch aufwendiger gewesen sein, heißt es vom Kärntner ORF. Alles funktionierte jedenfalls einwandfrei, und auch die Diskussionen nahmen Fahrt auf. So klug sich die Neojurorin Brigitte Schwens-Harrant von der Furche integrierte, so sehr stiftete der neue Philipp Tingler Unruhe. Dass er ein Mann des Wortes ist, konnte man zwar schon von seinen Pullovern ablesen, die von dem Schweizer eingeladenen, recht klassischen und selbstbezogenen Wohlstandstexte verliehen seinen Einwänden jedoch nicht mehr Substanz.

Mit den ständigen Zwischenrufen zwang er seine Jurykollegen aber auch, die Grundlage ihrer Urteile noch mehr als in den vergangenen Jahren zu erläutern und oft ganz grundsätzlich zu werden: Kann man Autobiografie nach literarischen Kriterien bewerten? Wie viel Handlung braucht ein Text? Wie flexibel sind Kriterien?

Ob sie sich das 2021 aber wieder antun wollen? Kein nächstes, wieder analoges Jahr in der Jury wird es jedenfalls für Hubert Winkels geben. Nach Klagenfurt soll er dennoch kommen: als Eröffnungsredner. (Michael Wurmitzer, 21.6.2020)