Reichenaus Bürgermeister Johann Döller zeigt, wie getestet wird. Während der Covid-19-Welle war er selbst auch infiziert.

foto: irene brickner

Reichenau – Wenn das Wetter aufklart und die Sonne scheint, ist der Luftkurort Reichenau an der Rax in diesen Tagen eine Idylle: tiefgrüne Wiesen, einsame Waldwege, blumengeschmückte Wirtshausgärten mit bis dato nur wenigen Gästen. Am Himmel kreisen Greifvögel, ungestört von den sonst zahlreichen Flugzeugen.

Manchem Einheimischen jedoch steckt nach wie vor der Corona-Schreck in den Knochen. Vor hundert Tagen, Ende März, hatte das Virus die Gemeinde voll im Griff, 70 der rund 2.600 Einwohnerinnen und Einwohner waren positiv, 200 in Quarantäne: Ein niederösterreichischer Seuchen-Hotspot, nachdem eine Schulmitarbeiterin mit engen Kontakten in den Gemeinderat vom Skifahren in Tirol krank zurückgekommen war und sich der Erreger über Mandatare, Schulkinder sowie nach einer Chorprobe in den Familien verbreitete.

Viel mehr Psychopharmaka

Damals kämpften auch nicht direkt Betroffene mit Ängsten. Nächtelang sei er schlaflos da gelegen, nachdem ihm ein Kunde direkt ins Gesicht geniest hatte, erzählt ein Verkäufer in einem der Supermärkte und Geschäfte an der Hauptstraße. Die Psychopharmakaverschreibungen hätten in den vergangenen Monaten stark zugenommen, heißt es aus medizinischen Kreisen in der Region.

Doch nicht nur der Infektionsausbruch, auch die lokale Tourismus- und Wirtschaftskrise fordert ihren Tribut. Der Reichenauer Theatersommer wurde für heuer abgesagt, zwei große Hotels gerieten seit März in die Insolvenz. Andere Beherberger hingegen hätten sich als robuster herausgestellt, lobt Bürgermeister Johann Döller (ÖVP): "Unsere Familienbetriebe werden das gut überstehen", sagte er im Gespräch mit dem STANDARD.

Aufarbeitung der "harten Wochen"

Am Wochenende nun startete ein virologisch-epidemiologisches Aufarbeitungskapitel der, wie es Bürgermeister Döller ausdrückt, "harten Wochen", während der auch er als positiv Getesteter 14 Tage mit leichten Symptomen in Quarantäne verbrachte. In den sonst für Oster-, Kunstmärkte und Kulturveranstaltungen reservierten historischen Gewölben des Schlosses Reichenau fand ein großangelegter Corona-Antikörpertest statt: die bisher umfassendste Flächenstudie dieser Art in Österreich, im Auftrag des Landes und organisiert vom Roten Kreuz/Notruf Team Niederösterreich. In Weißenkirchen in der Wachau gab es gleichzeitig eine ähnliche, wenn auch kleinere Untersuchung.

2.600 Reichenauerinnen und Reichenauer wurden zu der Antikörperstudie eingeladen, unter anderem durch Aushänge in Häusern.
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Eingeladen waren alle 2.600 Reichenauer mit Hauptwohnsitz, die meisten kamen. Für Reichenauer mit Nebenwohnsitz soll es einen eigenen Testtermin geben. Am Eingang stand ein Empfangszelt mit Maskenverteilung, drinnen sorgte ein Besucherleitsystem mit vielen kontaktlose Desinfektionsspendern für Hygiene. Die Masken stammten aus einer geschützten Werkstätte in St. Pölten, die Besucher wurden in den Kojen erst zu einem fragebogengestützten Interview und anschließend zum Bluttest gebeten.

Ein Ritzen an der Fingerkuppe

Ein Ritzen an der Fingerkuppe, das Resultat des Schnelltests der Firma Schebo stand jeweils nur 15 Minuten später fest. Wer fertig war, erhielt einen Code, mit dem er oder sie das Ergebnis tags darauf erfahren konnte. Ein Referenztest im Labor, um zu verhindern, dass Antikörper auf andere Erreger als Corona-Antikörper missinterpretiert werden, ist nicht vorgesehen.

Pressekonferenz in Schloss Reichenau mit – von rechts nach links – Landessanitätsdirektorin Irmgard Lechner, NÖ-Gesundheitslandesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) und Reichenaus Bürgermeister Johann Döller (ÖVP).
Foto: irene brickner

Positiv Getestete könnten auf keinen Fall von persönlicher Immunität gegen Covid-19 ausgehen, wurde bei einer Pressekonferenz mit der niederösterreichischen Gesundheitslandesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) und Ortschef Döller mehrfach betont. Tatsächlich gibt die Frage von Widerstandskräften gegen den neuen Erreger Experten über die Antikörpertestfrage hinaus Rätsel auf: Laut dem Virologen an der Med-Uni Wien, Lukas Weseslindtner, wird derzeit diskutiert, ob es neben Antikörpern andere körpereigenen Immunkräfte gibt.

"Überraschung" bei Antikörperdichte

Die Reichenauer Antikörperdichte sei "überraschend", sagte Landessanitätsdirektorin Irmgard Lechner bereits am Samstag. Der Test hatte da erst begonnen. Welcher Art die Überraschung war, verriet sie nicht. Das in einigen Wochen zu erwartende Endresultat werde "ein Puzzlestück sein, um die Herdenimmunität gegen das Coronavirus in der Bevölkerung zu eruieren", sagte sie später dem STANDARD.

Die lokalen Betriebe und die Gemeinde versuchen unterdessen, ökonomische Resilienz aufzubauen. Sie bereiten sich auf eine Tourismussaison vor, die – ohne Kultursommer und entsprechende Zimmerbuchungen – wohl eher einer klassischen Städter-Sommerfrische für Hitzegeplagte ähneln wird. Eines der beiden Freibäder hat an warmen Tagen bereits geöffnet, das zweite soll bald folgen. (Irene Brickner, 21.6.2020)